Leben mit Lawinen
Während im Urner Talboden die Bäume blühen, das Vieh weidet und Gras siliert wird, liegt im Meiental noch viel Schnee. Lawinen haben viele Steine und Äste ins Tal geschoben, welche nun in mühseliger Handarbeit aus dem Land gelesen werden. «Schönen» nennt man diese Arbeit, die jeden Frühling nach der Schneeschmelze beginnt.
Notstrasse seit 1987 versprochen
Wenn in den Höhen oberhalb 1300 Metern viel Schnee fällt, bedrohen fünf Lawinen die Menschen im Meiental und verschütten immer wieder die Strasse zwischen dem Weiler Husen und dem Dorf Meien. Die Meientaler fordern darum seit 31 Jahren den Bau einer einfachen, einspurigen Notstrasse mit drei Tunnel durch die zwei Kilometer lange Lawinenzone. 1987 wurde die wintersichere Strasse in einer kantonalen Abstimmung beschlossen, doch gebaut wurde sie nie.
Verena Walker wohnt im untersten Weiler des Meientals, in Husen. Als CVP-Politikerin vertritt sie die Interessen des Meientals im Urner Kantonsparlament, dem Landrat: «Ich verlangte 2013 mit einer Motion vom Regierungsrat die Realisierung der wintersichern Notstrasse in einem Zeitraum von 10 Jahren.» Der Regierungsrat erstellte einen Bericht, am 22. Oktober 2014 kam das definitive Aus: der Landrat stimmte gegen das Postulat Verena Walker. «Das Projekt stehe in keinem Kosten-Nutzen-Verhältnis», wurde im Rat argumentiert. «Die Sicherheit der Strasse werde zwar geringfügig erhöht und die Erreichbarkeit des Tales verbessert. Hierfür aber mindestens 14,8 Millionen Franken auszugeben, lasse sich nicht rechtfertigen. Für dieses Projekt seien von keiner Seite Subventionen zu erwarten, sodass der Kanton die Kosten alleine tragen müsse.» Stattdessen bewilligte der Regierungsrat Helikopterflüge sowie Unterkünfte für Schulkinder und Pendler während den Sperrzeiten. «Diese Alternativen bringen uns wenig», betont Verena Walker.
Erinnerungen an den Lawinenwinter 1984
«Im Winter 1984 kam ein Bauer ums Leben, ein zweiter wurde verschüttet, zahlreiche Tiere starben, Häuser und Ställe wurden zerstört. Das erzählen wir uns immer wieder, wenn es so viel Schnee hat, wie dieses Jahr», sagt Verena Walker. «Wir werden immer ein wenig vergessen. Viel Geld wird im Unterland investiert, bei uns passiert nichts. Der Heli ist nur ein Zückerli für uns. Die Notstrasse ist keine Luxuslösung, sondern nur ein einspuriger Tunnel mit Signalanlage.» «Von Husen bis zum Dörfli bist du keinen Schritt sicher», ergänzt ihr Mann Toni.
Und täglich grüsst der SMS-Dienst
Die Baudirektion Uri und die Sicherheitsdirektion Uri informieren im Winter die Bevölkerung per SMS-Dienst über anstehende Strassensperrungen. Während Monaten erhalten die Meientalerinnen und Meientaler täglich SMS-Warnungen: «Sa, 07.04.18. 1:19 PM. Meien Sperrung KANTON URI. Wichtige Mitteilung: Die Strasse Meien–Färnigen ist ab sofort bis auf Weiteres gesperrt. Lawinenniedergang.» «Sa, 14.04.18. 8:00 AM. KANTON URI Wichtige Mitteilung: Die Strasse Wassen–Meien ist am 14.04. ab 08.30–09.30 Uhr und 11.00–12.00 Uhr geöffnet, ansonsten bleibt die Strecke gesperrt.» Diese Meldungen beweisen eindrücklich, wie stark das Leben im Meiental von Lawinen dominiert wird. Oft ist die Strasse nach einem Lawinenniedergang tagelang gesperrt oder bei Lawinengefahr in «Zeitfenstern» für jeweils eine Stunde geöffnet. Lawinen sind unberechenbar, es ist nicht voraussagbar, wann eine Lawine abgeht und wie gross die Lawine sein wird. Ein Restrisiko besteht, auch wenn die Strasse vom Kanton freigegeben wird.
Landwirtschaft stark betroffen
Der Bauer Andreas Baumann sitzt am Küchentisch seines Hauses im Dörfli Meien. «Diesen April war die Strasse oft geschlossen. Für uns Bauern bedeuten die vielen Sperrungen Einschränkungen und Verluste. Ich bin beim Label ‹Coop-Naturafarm›, sollte die Kälber nach 160 Tagen rechtzeitig abgeben. Wenn sie zu schwer sind, wird der Label-Zuschlag nicht bezahlt. Darum müssen wir oft trotz des Fahrverbots fahren. Mein Vater beobachtet den Lawinenhang und gibt mir per Handy grünes Licht. Das geht auf die Dauer nicht.» Weil der Besamer nicht mit dem Heli ins fliegt, steht bei Andreas Baumann ein OB-Stier im Stall. Er muss auch bei der Zucht Kompromisse machen.
«Nur eine Notstrasse mit Tunnel bietet hundertprozentigen Schutz. Wenn der Kanton kein Risiko eingehen will, muss er bald etwas unternehmen», sagt Andreas Baumann. «Die Schulkinder fahren vier Mal täglich durch die Lawinenzone.»
Trotz der vielen Strassensperrungen nimmt der Verkehr im Meiental zu. Immer mehr Tourenfahrer aus Italien, Deutschland und der Schweiz fahren an schönen Wochenenden ins Meiental. Waren es vor 10 Jahren noch einzelne, stehen an einem schönen Sonntag bis 60 Fahrzeuge im Dorf Meien. Damit steigt das Risiko eines schweren Lawinenunglücks.
Leben käme ins Tal zurück
«Das Tal wird in seiner Entwicklung behindert», sagt Josef Baumann, Präsident von «Pro Meien», der Selbsthilfeorganisation des Meientals. «Ohne eine wintersichere Verbindung sind Junge gezwungen das Tal zu verlassen, weil Arbeitgeber niemanden einstellen, der nicht regelmässig zur Arbeit erscheinen kann.» Andreas Baumann erwartet von einer wintersicheren Verbindung eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl: «Das Meiental würde als Wohnort für junge Familien wieder attraktiver. Leben käme ins Tal zurück.»
«Manchmal denke ich, wir werden langsam ein Museum», sagt Verena Walker. «Die traditionellen Meientaler Holzzäune werden erneuert und es gibt Geld für das Projekt die Biotopaufwertung und Landschaftsentwicklung. Auch für den Unterhalt der alten Sustenstrasse wird gesorgt, damit alles im Sommer für die Touristen bereit ist. Und wir? Wir leben das ganze Jahr hier, der Winter dauert sieben Monate. Bei der wintersichern Notstrasse geht es doch um die Frage der dezentralen Besiedlung – oder anders ausgedrückt: unterstützt der Kanton Uri eine lebenswerte Zukunft im Meiental?»