Raum für Jenische und Sinti

Die Schweiz ist stolz auf ihre vier Sprachen und ihre unterschiedlichen Kulturen: Genannt werden die Romands, die Tessiner, die Rätoromanen und die Deutschschweizer. Dass jedoch über 35000 Jenische und Sinti in der Schweiz leben, geht in dieser Aufzählung meist vergessen. Anerkannt durch internationale Vereinbarungen bilden Jenische und Sinti im Rahmen der Schweizer Staatlichkeit eine kulturell, politisch und sozial eigenständige Volksgruppe.

Während die meisten Fahrenden heute sesshaft sind, leben rund 3000 eine halbnomadische Lebensweise. Im Winter wohnen sie auf Standplätzen, von Frühjahr bis Herbst sind sie unterwegs, «auf der Reise». Für die fahrenden, wie für die sesshaften Jenischen und Sinti ist die «Reise» ein zentrales Element ihrer Kultur und Identität. Unterwegs lassen sich Jenische und Sinti auf offiziellen Plätzen oder bei Bauern nieder. Sie arbeiten heute als Maler, Maurer, Spengler oder Antiquitätenhändler und ziehen weiter, wenn die Arbeit erledigt ist.

 

Heute willkommen

Von 1433 bis 1817 war Gersau Freistaat mit eigener Rechtssprechung und zugewandter Ort der Eidgenossenschaft. Seit Jahrhunderten, von 1722 bis 1817 schriftlich belegt, trafen sich die Fahrenden in der Minirepublik Gersau zur Fecker-Chilbi. An der Kirchweihe waren sie als Musiker und Marktfahrer während drei Tagen willkommen. Gersau war jedoch nicht liberaler als alle anderen Schweizer Gemeinden. Grundsätzlich verbot sie den Fahrenden das Betreten ihres Gebiets. Nach der Eingliederung der Republik Gersau in den Kanton Schwyz (1817) wurde die Fecker-Chilbi 1848 definitiv verboten. Erst 1983, anlässlich der 650-Jahr-Feier der Gemeinde Gersau, fand erstmals wieder eine Fecker-Chilbi statt.

 

Ende Mai sind mehrere jenische Familien zum Fecker-Märt nach Gersau gereist. Am 1. Juni haben sie im Park der Villa Flora ihre Markt- und Essensstände aufgebaut. Im Festzelt spielen die «Bündner Spitzbueba», eine bekannte jenische Formation, Ländler im Innerschweizer Stil. Silvia Camenzind, Bezirksrätin von Gersau, begrüsst und dankt den Fahrenden: «Als der Fecker Verein vor einem halben Jahr auf uns zukam, dachte ich. Super, es kommen wieder Leute nach Gersau, es gibt ein Fest, es gibt Werbung.»

 

Platz für Fahrende

«Für die Organisation des Fecker-Märts in Gersau gründeten wir Fahrenden im Januar 2019 den Fecker Verein Schweiz SVS», sagt Willi Moser. «Wir kommen am Fecker-Märt mit Einheimischen zusammen, gehen auf sie zu. Leider haben sie zum Teil gewissen Respekt oder sogar ein wenig Angst vor uns, was natürlich schade ist. Der Fecker-Märt ist eine Möglichkeit Vorurteile abzubauen.» Willi Moser ist unermüdlich auf der Suche nach Stand- und Durchgangsplätzen, ist Anlaufstelle zu Behörden. «Die grösste Problematik sind für uns die fehlenden Durchgangs- und Standplätze.»

Die Schweiz hat die Jenischen 1998 bei der Ratifikation des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates als nationale Minderheit anerkannt. Wichtig für den Rechtsschutz der Jenischen und Sinti auf nationaler Ebene sind das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung. Ein Bundesgerichtsurteil von 2003 hält fest, dass die besonderen Bedürfnisse der Fahrenden in der Raumplanung berücksichtigt werden müssen. Spätestens seither ist klar, dass Bund, Kantone und Gemeinden zusammenarbeiten müssen, um für eine ausreichende Anzahl Stand- und Durchgangsplätze zu sorgen.

 

Standplätze, Durchgangsplätze, spontaner Halt

Simon Röthlisberger ist Geschäftsführer der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende. «Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen Standplätzen, Durchgangsplätzen und Spontanem Halt. Möglichkeiten für Spontanhalte. Dies einerseits als Ergänzung zu den offiziellen Plätzen, damit Fahrende dort halten können, wo es Arbeit gibt. Andererseits kommt dem Spontanhalt eine ho­he Bedeutung zu, solange es an offiziellen Durchgangsplätzen mangelt.»

Standplätze: Hier verbringen Jenische und Sinti den Winter; sie sind vom September/Oktober bis im Frühjahr dort. Oft finden sich auf solchen Standplätzen auch Fahrnisbauten wie kleine Chalets oder Container.

Durchgangsplätze: Für den Aufenthalt vor allem während der Sommermonate. Meist ist der Aufenthalt auf 30 Tagen beschränkt.

Spontaner Halt: Grössere und kleinere Gruppen von Fahrenden bleiben jeweils bis zu zweimal im Jahr für etwa vier Wochen auf einem Privatgrundstück. Dabei handelt es sich oftmals um Grundstücke in der Landwirtschaftszone, die wegen der befristeten Nutzung mit einer bescheidenen Infrastruktur auskommen. Nach Möglichkeit stellt auch die öffentliche Hand Platz für Spontanhalte zur Verfügung.

 

Was kann eine Bauernfamilie für Fahrende tun?

«Eine Bauernfamilie kann Fahrenden Land für den sogenannten «spontanen Halt» vermieten», sagt Simon Röthlisberger. «Sie tragen damit dazu bei, diesen Minderheiten Lebensraum zu geben. Gleichzeitig bringt das Vermieten von Land aber auch etwas für die Landwirtin oder den Landwirt – der Preis ist Verhandlungssache. Informieren Sie aber die Gemeinde und erkundigen Sie sich bei Fachorganisationen, wenn Sie Land so vermieten.»

Aus raumplanungsrechtlicher Sicht ist es zulässig, wenn 2 Mal jährlich für max. 4 Wochen die Fläche vermietet wird. Es braucht dafür keine Baubewilligung, weil beim Spontanhalt auch keine Geländeveränderungen oder Bauten erstellt werden.

 

Auskunft zum «Spontanen Halt»:

Fecker Verein Schweiz, Seestrasse 23, 7310 Bad Ragaz

Tel. 079 766 88 97 oder feckerverein@hotmail.com

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