Vergessenes Jahrhundertwerk

Zwischen Erstfeld und Flüelen befinden sich die grössten, ebenen Landwirtschaftsflächen des Kantons Uri. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts waren diese Flächen Allmend. Kleinbauern trieben ihre Tiere auf die Weiden und schnitten Borstgras und Schilf zum Einstreuen. Zwischen 1919 bis 1925 wurde das Gebiet durch den Bau eines riesigen Leitungsnetzes unterirdisch entwässert.

 

Bis zum Ersten Weltkrieg war der Urner Talboden von Amsteg bis zum Reussdelta eine Sumpf- und Riedlandschaft. Die Reuss schlängelte sich durch die Ebene und trat regelmässig über die Ufer. Alte Wasserläufe, lediglich vom Grundwasser gespiesen und Bergbäche, die aus den Seitentälern in die Ebene flossen, bildeten ein dichtes Netz von Wasserläufen und Tümpeln. In der Reussebene gab es kaum Häuser, die Dörfer entstanden entlang der Bergflanken.

Sämtliche Bevölkerungsschichten besassen im 19. Jahrhundert zur Selbstversorgung Tiere. Das Land wurde vorwiegend als Allmend gebraucht, auf welches die Bauern- und Arbeiterfamilien ihre Tiere zum Weiden trieben. Besonders begehrt waren die Riedflächen – Borstgras und Schilf dienten als Streue.

In den Allmendgärten wurden vor allem Kartoffeln und Gemüse angebaut. Die Gärten durften aber nur auf minderwertigem Land, entlang der Reuss, angelegt werden. 1834, 1839, 1868 verwüsteten schwerere Überschwemmungen die Reussebene. Malaria breitete sich aus. Das Land versumpfte, die Allmendgärten waren zerstört, die Menschen litten an Hunger. 1870 kam es zur ersten Auswanderungswelle nach Übersee und in europäische Nachbarländer.

 

Bau des Reusskanals

Zwischen 1850 bis 1863 wurde die Reuss nach den Plänen des Urner Ingenieurs Emanuel Müller (1804–1869) kanalisiert. Der Kanal erstreckte sich vom Urnersee bis Attinghausen. Mit der Zeit vermochte jedoch der Fluss das Geschiebe nicht mehr in den See zu verfrachten. Nach weiteren Überflutungen (1897 und 1898) wurde der Kanal weit in den See hinaus verlängert. Auch der Schächenbach wurde nach der grossen Überschwemmung von 1910 verbaut. Trotz der Kanalisierung blieb die Reussebene eine Ried- und Sumpflandschaft. Ende des 19. Jahrhunderts vergab die Korporation Uri als Bodenverbesserungsmassnahme Land zur Pacht.

Die Bauern mussten das Land aber urbar machen, Sandbänke und Steine abtragen und Sträucher roden.

 

Anschub im Ersten Weltkrieg

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 konnte die Schweiz weniger Lebensmittel importieren. 1917 kam es zu Engpässen.

Der Bund sprach Geld für Bodenverbesserungen und beteilige sich bei Meliorationsprojekten mit 30 Prozent der Kosten. Die Meliorationen sollten einen Beitrag zur Lebensmittelversorgung leisten. Im September 1918 veröffentlichte der Zürcher Kulturingenieur Johannes Emil Girsberger (1871–1930) ein Projekt zur Melioration der rechtsseitigen Reussebene von Erstfeld bis zum Urnersee mit folgenden Vorgaben: Die ganze Reussebene müsse trockengelegt werden. Ziel sei eine mechanisierte Landwirtschaft, dafür waren Güterzusammenlegungen erforderlich. Die Anzahl der Grundstücke soll vermindert, die Grenzlinien begradigt und die Grundstücke mit Feldwegen erschlossen werden. Ziel war es, aus dem Urner Talboden eine Kornkammer zu machen. Die damaligen Planer glaubten gar, dass sich der Kanton Uri dank der Melioration künftig selbst mit Lebensmittel versorgen könnte.

1919 begannen die Arbeiten am Meliorationsprojekt, ohne dass Detailpläne zum Bauvorhaben vorlagen. Die beteiligten Baufirmen offerierten mehr als budgetiert und die Verantwortlichen der Meliorationsgenossenschaft musste feststellen, dass sie die Kosten von 1,7 Millionen Franken nicht einhalten konnten. Das ganze Bauvorhaben kostete über 3 Millionen. Die Korporation Uri, der Kanton Uri und der Bund gewährten 1921 Nachtragskredite. Die Bauarbeiten waren bereits weit fortgeschritten.

Einige ehemalige Angestellte der Munitionsfabrik fanden eine Anstellung bei der Melio­rationsgenossenschaft. Sie beschäftigte zeitweise bis 130 Personen. Besonders im Winter, wenn die Grundwasserstände tief waren, herrschte auf den Baustellen Hochbetrieb.

 

Klagen bis vor Bundesgericht

Widerstand gegen das Grossprojekt gab es von den finanzschwachen Gemeinden, aber auch von Firmen und nicht bäuerlichen Liegenschaftsbesitzern. Sie sahen im Meliorationsprojekt keinen Nutzen und hatten kein Interesse die Melioration mitzufinanzieren. Es folgte eine Flut von Beschwerden gegen den sogenannten Perimeterbeitrag, zum Teil bis vor Bundegericht.

Mit der Melioration verschwanden die vielen Gräben, Tümpel und Bäche, einige Quellen versiegten. Bis anhin hatten die Tiere genügend Trinkwasser auf den Weiden, das nun plötzlich fehlte. Das sorgte für Unmut – die Bauern protestierten. Bereits 1920 hatte die Korporation Uri erste Weideverbote auf den Bodenallmenden erlassen. Damit verloren Kleinbauern ihre jahrhundertealten Nutzungsrechte.

Die Meliorationsgenossenschaft baute bis im Frühjahr 1923 ein 17 Kilometer langes Weg- und Strassennetz zur Erschliessung der Grundstücke und für eine mechanisierte Bewirtschaftung. Auch dagegen gab es Proteste.

 

Hohe Schulden

Wegen des teuren Meliorationsprojekts geriet die Korporation Uri in finanzielle Probleme. 1921 beschloss die Korporationsgemeinde, dass die Korporation ihre Schulden von 500'000 Franken durch die Verpachtung von Liegenschaften zurückzahlen musste.

Die Privatisierung der Allmend war ein grosser Einschnitt für die Landwirtschaft: 85 Hektaren Allmendland teilte die Korporation in

30 Pachtparzellen auf und liess auf grösseren Grundstücken 9 sogenannte Siedlungsbauten (Häuser mit Ställen) errichten.

Nachdem die Entwässerungskanäle gebaut und das 75 Kilometer lange Netz von Drainageleitungen verlegt waren, begann die Meliorationsgenossenschaft im Frühling 1923 den Talboden zu urbanisieren. Mit einem Traktor wurde die Riedebene umgepflügt und planiert. Saatgut und Kunstdünger verwandelten die Riedflächen zu ertragreichen Wiesen. Die ausgetrockneten Gräben und Bachläufe wurden aufgefüllt. Zum Teil mit Abfällen, Asche aus Privathaushalten oder mit Russ- und Kohleschlacke der der Dampflokomotiven der SBB.

Nach Abschluss der Meliorationsarbeiten blieben in der Kasse der Meliorationsgenossenschaft 627'000 Franken übrig. Mit dem Geld und den Zinsen konnte die Genossenschaft aus ihren Eigenmitteln die Reparatur- und Unterhaltsarbeiten finanzieren. Im Gegensatz dazu waren die meisten 200 privaten Grundstückbesitzer, die in ärmlichen Verhältnissen lebten, hoch verschuldet. Ihre Schulden aus den Perimeterbeiträgen betrugen total 728'200 Franken. Die betroffenen Bauernfamilien benötigten zwei bis drei Generationen um ihre Schulden bei der Meliorationsgenossenschaft zurückzuzahlen. Die letzten Zahlungen erfolgten vor rund 15 Jahren. 

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