Bis zu den ersten Zügen
«Mein Vater Max und sein Bruder Walter führten in Göschenen einen Coiffeursalon und meine Mutter ein Comestibles-Lädeli», erzählt Vreni Dubacher aus Göschenen. «Hier bekamst du alles. Von den Wurstwaren, über Kissen, bis zu Knöpfen oder Schreibwaren. Vor der Fasnacht hat mein Vater die Schaufenster liebevoll dekoriert, Fasnachtsmasken und Instrumente ausgestellt. Oft stand ich mit grossen Augen vor dem Schaufenster, fasziniert von diesen Masken. Noch heute lagern viele dieser Masken auf meinem Estrich.
Ich bin in einer fasnachtsverrückten Familie aufgewachsen. Mein Vater engagierte sich für das Dorfleben, war in vielen Vereinen im Vorstand. Über 60 Jahre spielte er in der Musikgesellschaft Göschenen Erstes Flügelhorn und Es-Bass. Jahrelang war er Samichlaus. Wir wussten das nicht. Vater sagte uns am 6. Dezember immer, dass er an einem Coiffeurkongress in Zürich sei. Vor allem ging mein Vater gerne z’Fasnacht, schrieb sogar mehrmals Schnitzelbänke. Die Zeichnungen stammten von Enrico Monti.
Die Fasnachtsbegeisterung des Vaters riss uns mit. Meine ältere Schwester Heidi ging meist als Einzelmaske, in den Beizen von Tisch zu Tisch. Sie kannte die Göschner und ihre Geschichten. Als Maschgerade musste man pressieren, um rechtzeitig im Buffet zu sein, dort war vor Mitternacht Prämierung, danach Demaskierung, Essen und Tanz. Gefestet wurde ‹bis zu den ersten Zügen›.
Mein Bruder Tini spielte Schlagzeug in der Kleinformation von Beat Siegenthaler, den Sigi-Boys. Sie traten als Clowns auf, spielten an der Strassenfasnacht oder in den Gaststätten. Mein jüngster Bruder, Pepp, trommelte bereits als Ersklässler mutterseelenallein den Katzenmusikmarsch im Dorf. Sein Instrument, eine grosse Büchse, gab ihm der Koch der Kantine, Röby Kuohn.
Nebst dem legendären Buffetball am Güdelmontag, gab es am Schmutzigen Donnerstag auch im ‹Gotthard› und in der ‹Sagi›, Maskenbälle. Dort spielten meist Ländlerkapellen. Auch das ‹Rössli›, die ‹Alte Post›, der ‹Löwen›, die ‹Krone›, der ‹Adler›, und das Gasthaus ‹Zu den Drei Eidgenossen› waren bis auf den letzten Platz besetzt. Die Katzenmusik ging auf Beizentour. Das Gedränge in den Gaststätten war atemberaubend, der Lärmpegel ohrenbetäubend. Mit der Katzenmusik setzten wir noch einen drauf, spielten den Dixie, bis die Fenster zitterten. In jedem Restaurant gabs für die Katzenmusiker Gratisgetränke. Man tanzte auf den Tischen, sang zu Schlagern aus der Musikbox, Runden wurden ausgegeben, die Luft war voller Rauch. Im ‹Löwen› flogen Stühle in hohem Bogen durchs offene Fenster in die Reuss. In der ‹Krone› sperrten sie den Polizisten in den Keller oder Übermütige rumpelten im ‹Gotthard› auf dem Schlitten die Treppe hinunter.
Anfang der Neunzigerjahre, an einem Schmutzigen-Donnerstag stöberte ich auf der Suche nach einem Fasnachtssujet in den Gestellen. Dabei stiess ich auf eine grosse Schachtel. Sie war mit ‹Max und Moritz› angeschrieben. Darin zwei Masken und die Gewänder, schön zusammengefaltet. Alles wie neu. Das brachte mich auf eine Idee. Ich rief meine Freundin Chiara an und erklärte ihr meinen Plan. Begeistert sagte sie zu. Daheim studierten wir die sieben Streiche aus dem Buch von Wilhelm Busch – Beim ersten und zweiten Streich müssen die Hühner der Witwe Bolte dran glauben – Beim dritten Streich sägen Max und Moritz den Steg des Schneider Böcks entzwei. So inspiriert machten wir uns gleich an die Arbeit. Haben Pouletschenkel gebraten, Brote gebacken und alles in zwei Säcke abgefüllt. Aus der Werkstatt meines Vaters nahm ich eine Säge. Dann schlüpften in unsere Gewänder und zogen die Masken ‹Gotthard›. Mit der Wirtin Erna Odermatt hatten wir zuvor abgemacht, dass sie uns drei alte Stühle bereitstellen sollte.
Vor dem Restaurant konnten wir nicht mehr, vor lauter Kichern. Wir stellten uns die ganze Szenerie vor und waren gespannt, wie die Leute reagieren würden. Als wir in den Saal traten, schauten einige überrascht in unsere Richtung. Wir zögerten keinen Moment, griffen in einen Sack und warfen erst Mal tüchtig Mehl und Konfetti herum. Alle in unserer Nähe niessend, weiss eingepudert und voller Konfetti. Der Musiker musste kurz unterbrechen, da sein Keyboard vor lauter Konfetti nicht mehr tönte. Dank einem Staubsauger konnte er weiterspielen.
Die drei dunklen, alten Stühle entdeckten wir sofort. Die drei Personen, die auf diesen Stühlen sassen, waren unsere ‹Opfer›. Einer war der Mattli Ruedi aus Wassen. Zuerst habe ich ihm Pouletschenkel und Brot angeboten, während Chiara ihn, zu seiner Verwunderung, am Stuhl fesselte. Er nahms gelassen, machte mit. Als wir mit der Säge sämtliche Stuhlbeine durchtrennten, lachte der ganze Saal. Dann trugen wir den Mattli Ruedi mitsamt seinem Stuhl nach draussen und stellten ihn vor dem Gotthard auf die Strasse. Erna Odermatt stand beim Türpfosten, beobachtete alles und amüsierte sich.»