D Alpäreesäler
Beim Kreisel Göschenen, auf dem Abstellplatz des Werkhofs Göschenen, steht der Stand der Alpenrosen-Verkäuferin Christine Walker aus Meien. Alpenrosen, Alpkäse, Ziegenkäse, Butter, steht unübersehbar auf Tafeln an der Gotthardpassstrasse. Urner- und Schweizerfahnen flattern, schaffen Aufmerksamkeit. Es ist heiss, eine kühle Bise weht Richtung Schöllenen. Auf einem Holztischchen liegen dutzende Alpenrosensträusse. Neben einem grauen Container findet sich auf einem grossen Klapptisch eine breite Auslage verschiedener Alpkäse, Trockenfleisch, Würste, Kristalle und Souvenirartikel. Sonnenschirme spenden Schatten, kühlen die Lebensmittel und schützen die Alpenrosen vor dem Verwelken. Christine Walker in rotem T-Shirt mit Schweizer Kreuz, taucht in einem grossen Plastikkübel einen Alpenrosenstrauch, spritzt damit Wasser auf die übrigen Sträusse und wartet auf Kundschaft.
Meist ist die Alpenrosenverkäuferin nicht allein, eine kleine Runde leistet ihr Gesellschaft: Der Automechaniker Werner Odermatt, ihre Schwester Sabine Walker und der Velotransporteur Franz Nager. Man plaudert, lacht, erzählt sich Geschichten. «Bei schönem Wetter sind am Nachmittag die Gartenstühle immer besetzt», erzählt Christine Walker. Im Inneren ihres Containers hat sie eine kleine Küche eingerichtet samt Mikrowelle, Kühlschrank und einer Kaffeemaschine. «Auch Verwandte und Bekannte kommen gerne auf einen Kaffee vorbei, schätzen es, dass hier etwas los ist. Sie erzählen von ihren Sorgen, fragen dich nach deiner Meinung.»
Wo geht’s bitte nach Italien?
Autos, Wohnwagen, Wohnmobile, Motorräder – dichter Verkehr Richtung Süden und Norden. Die Einfahrt Göschenen ist gesperrt. Viele fahren über den Pass, andere möchten lieber durch den Tunnel und werden durch ihr Navi zur gesperrten Einfahrt geleitet. Sie wenden, fahren Richtung Pass, fahren um den Stand von Christine Walker und wissen nicht mehr weiter. Einige steigen aus, andere öffnen ihr Fenster, fragen nach dem Weg. Holländer, Deutsche, Franzosen. Christine Walker gestikuliert, zeigt mit dem Arm in Richtung Schöllenen. Ob sie verstanden haben? «Das geht den ganzen Tag so», bemerkt die Alpenrosenverkäuferin leicht genervt.
In der Hauptsaison von Mai bis Ende Oktober, öffnet Christine Walker täglich um 9 Uhr ihren Stand und schliesst um 18.30 Uhr. Bis alle Artikel im Container verstaut, der Tisch und die Schirme versorgt sind, wird es 19.00 Uhr.
Heute ist ihr Arbeitstag noch lange nicht zu Ende. Christine Walker fährt mit ihrem Bruder Beat Richtung Sustenpass bis zur Alp Gufern. Sie packen zwei grosse Futtersäcke aus dem Kofferraum, dann geht’s auf dem Saumweg zu Fuss weiter, entlang der Reuss und letzten Schneeresten zu den Alpenrosenfeldern unterhalb der Sustenpasshöhe. Ende Juli sind die Blumen in tieferen Lagen bereits zu weit offen. Gesucht sind ungeöffnete, leuchtend rote Knospen. Jede Rose wird einzeln von Hand gepflückt, die elastischen, braunen Zweige gebrochen, dazu brauchen die beiden keine Werkzeuge. Nach zwei Stunden sind die Säcke gefüllt. Der Arbeitstag ist aber erst zu Ende wenn in der Bäsäbeiz von Christine Walker die Alpenrosen zu Sträussen gebunden sind. Die Geschwister Heidi und Beat helfen.
Als die Carchauffeure stoppten
Über 50 Jahre verkaufte Kaspar Walker Alpenrosen und Heidelbeeren an der Gotthardstrasse. Alpäreesäler, geboren am 28.7.1931, gestorben am 3.8.2012: Das Bild ihres Vaters hat Christine Walker an einem Fenster ihres Containers befestigt. Auf Wunsch ihres Vaters führt sie das Geschäft weiter. Ihr Bruder Beat erinnert sich, wie er mit seinen Geschwistern Jonny und Pauli von klein auf Alpenrosen gepflückt und sie an der Gotthardstrasse verkauft hatte: «Die schönste Zeit war vor dem Bau der Autobahn – wir hatten den ganzen Gotthardverkehr. Die Carchauffeure hielten, wir kannten sie beim Namen, konnten mit den Leuten spassen und etwas erzählen.» In den 1970er-Jahren verkauften Walkers Alpenrosen beim Teufelsstein, später in Göschenen beim Bierdepot.
Der Stand bestand aus einem kleinen Tischchen für die Alpenrosen, einem Schweizer Fähnchen, Plastikkübeln zum Netzen der Sträusse und einer grossen Holzkiste, gefüllt mit dem Vorrat an Alpenrosen. «Vater kaufte uns ein altes Auto. Wenn es regnete, sassen wir im Auto. Dort haben wir auch gegessen. Als Regenschutz diente ein alter Militärmantel, der wie ein Schwamm das Wasser aufsog. Wenns sonnig war, legten wir ihn zum Trocknen aufs Auto. Es dauerte zwei bis drei Tage, bis er trocken war.»
Bussen und Verbote
In den 1950er-Jahren wurde der Verkauf von Alpenrosen mit dem steigenden Verkehrsaufkommen zunehmend zu einem Geschäft. 1958 schritt der Urner Regierungsrat ein und verbot den Verkauf von Alpenrosen durch Schulpflichtige. Zudem schrieb er den Alpenrosenverkäufern vor, «sich anständig zu benehmen und sich jeder Aufdringlichkeit, Bettelei, Gefährdung des Strassenverkehrs und Übervorteilung zu enthalten» und verlangte von ihnen «sich anständig und sauber» zu kleiden. Der Alpenrosenverkauf an Sonn- und Feiertagen wurde gänzlich verboten. Kaspar Walker, Bauer und Hilfsarbeiter, wurde mehrmals von der Polizei gebüsst. Öfters nahm man ihm die Alpenrosen weg. Er liess sich jedoch nicht beirren: «Ihr könnt mich einsperren, ich mache weiter, ich habe eine grosse Familie,» Nach jahrelangem Kampf durfte Kaspar Walker legal an der Gotthardpassstrasse Alpenrosen verkaufen – mit kantonaler Bewilligung.
Ohne Ferien glücklich
«Einmal hatte ich 10 Wochen Schulferien, ich war jeden Tag am Verkaufen, habe keinen Tag ausgelassen», erzählt Beat Walker. «Ich bekam sehr viel Trinkgeld. Manchmal tauschten wir Buben Alpenrosensträusse gegen Kuchen, Eier, Getränke oder Früchte.»
Kaspar Walker besass kein Auto, sondern nur ein Zweigang-Töffli, eines der Marke «Kristall» und einen Anhänger. Den brauchte er für die grosse Holzkiste, die er mit Alpenrosen füllte. «Wenn Vater mit Töffli und Anhänger unterwegs war, durften wir manchmal mit. Um nicht von der Polizei erwischt zu werden, versteckten wir uns in der Kiste. Ich erinnere mich an einen Ausflug. Wir waren unterwegs, mein Bruder Jonny und ich lagen zusammengekauert in der Alpenrosen-Kiste. Bei einem Baum mit saftigen Kirschen hielt Vater an. Wir stiegen schnell aus, genossen die herrlichen Kirschen, stiegen in die Kiste, nahmen noch ein Ästchen mit und Vater fuhr weiter.»
Das Familienunternehmen
Eingespannt ins Geschäft mit Alpenrosen und Heidelbeeren war die ganze Familie. Während der Vater mit den Buben Beat, Jonny, Päuli, Seppu und Bruno Alpenrosen pflückte und Beeren sammelte, banden die Mädchen Christine, Sabine und Heidi mit der Mutter Sträusse und sortierten stundenlang Heidelbeeren. Abgefüllt und den Kunden verschickt wurden die Beeren in grossen Kesseln. Bis 10 Kilo Beeren hatten darin Platz. «Wir freuten uns, wenn die Kessel zurückkamen, es hatte immer Chräpfli oder Schoggi drin», erzählt Christine Walker lachend. «Mutter hat mir ein paar Mal gesagt, dass es ihr vom Sortieren trümmlig sei», erzählt Beat Walker. «Vater war ein starker Beeräner. 35 bis 40 Kilogramm hat er an einem Morgen geerntet. Nach einer kurzen Mittagspause ist er am Nachmittag wieder losgezogen. Am Abend war der Rückenkorb wieder bis oben voll mit Heidelbeeren.»
Im Winter arbeitete der Vater auf dem Bau. Von Frühling bis Herbst war die ganze Familie zum Sammeln der Alpenrosen und Beeren eingespannt. «So etwas gab und gibt es meines Wissens in der ganzen Schweiz nicht», meint Beat Walker. «Als Kinder mussten wir in den Schulferien verkaufen, jeden Tag, sieben Tage in der Woche, von 9 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. Ich war nicht traurig, dass ich im Sommer nicht mit den anderen Kindern spielen oder nicht in die Ferien konnte.»
Ein Stück Freiheit
Christine Walker arbeitete bei der Texaid, daheim im Haushalt und hat zu den Eltern geschaut: «Die Eltern haben viel geleistet. Sie hatten ein schönes Leben, aber auch ein hartes.» Seit sechs Jahren ist sie selbstständig, freut sich an ihrer neu gewonnenen Freiheit. Letzten Winter hat sie in zwei umgebauten Garagen ihre Bäsäbeiz in Aderbogen, Meien eröffnet. Viele Skitourenfahrer, aus Italien, Deutschland, Holland und der Schweiz geniessen die gemütliche Stube und das gute Essen. Und Werbung machten sie übers Internet erst noch selber.
Seit vielen Jahren hilft Beat Walker seiner Schwester Christine beim Pflücken. «Für mich ist dies ein Ausgleich zu meiner Arbeit beim Unterhaltsdienst an der Autobahn. Im Sustengebiet ist es viel kühler als im Reusstal. Das tut mir gut. Wir sind mit dem Sammeln von Alpenrosen und Beeren aufgewachsen. So eppis laad mä nid la gaa», sagt Beat Walker.