Reise in die Stille

Es schneit in Unterschächen, zum zweiten Mal in diesem Dezember. Nach einem schönen, kalten Wintertag, liegt die Temperatur bei drei Grad Celsius. Im Brunnital setzt schwacher Schneeregen, nasser, schwerer Schnee liegt auf der Strasse. In den Felswänden unterhalb der Trogenalp türmen sich auf verschiedenen Höhenstufen meterhohe, bläulich schimmernde Eiszapfen. Stalaktiten, Stalagmiten, wie in einer Tropfsteinhöhle.

Nach 20 Minuten erreiche ich den Parkplatz der Seilbahn Brunnital–Sittlisalp. Stille, Ruhe – das Dorf scheint weit weg. In der Seilhütte brennt Licht. Die Kabine Nummer 1, bereit für die Bergfahrt. Der Seilwart öffnet die Türe, grüsst, und kratzt mit der Schnee­schaufel eine dünne Eisschicht vom Betonboden. Er lädt mich zu einem Kaffee ein. Im Technikraum, rechts das Steuerpult, darüber der Monitor der Videoüberwachung mit Sicht in die Bergstation und der Kabine Nummer 2. Nach zwei Treppenstufen, die warme Stube mit Tisch, Stabellen und Eckbank, eine Spüle, ein Wasserkocher, eine Doppelkochplatte und an der Wand ein Fernseher. Ein Langlaufrennen wird übertragen. Der Seilwart stellt den Ton leiser. Ob die Seilbahn fahre? Ja, zwei wären oben, haben nach ihrer Alphütte geschaut. Die kämen bald wieder.

 

Beim Karihänseler in der Seilhütte

Inzwischen dampft heisser Kaffee in den Tassen und der Seilwart nennt seinen Namen: «Josef Arnold oder ein Karihänseler, wie sie uns im Schächental nennen.» Sein Vater habe bereits hier geseilt, allerdings noch mit der alten Seilbahn. «37 Jahre lang war er Seilwart. Von 1957 bis 1998 war die die Vorgängerin in Betrieb. Eine offene, zweiplätzige Niederberger-Seilbahn, angetrieben durch einen VW-Motor. Die Bahn funktionierte tadellos und sicher. Die Auswärtigen mussten sich jedoch für eine Fahrt überwinden. Oft schauten sie beim Masten unterhalb der Bergstation in die Tiefe und sagten, sie würden lieber zu Fuss ins Brunnital zurückkehren.»

An der Wand hängt ein Kreuz, darunter drei kleine Fotos von Verstorbenen, vom Initianten der neuen Seilbahn, Hans Arnold, vom Präsidenten Seilbahngenossenschaft Alfons Arnold und dessen Sohn Peter Arnold. Auch er war Präsident der Seilbahngenossenschaft, wie sein Vater. Er verlor sein Leben bei einem Lawinenunglück im Brunnital.

 

21 Kilo Brot in einer Woche

«Aufgewachsen bin ich in der Schiesshausmatte in Bürglen. Mein Vater, Brosi Arnold, war Älpler und Bauarbeiter.» Bereits als Kleinkind war Josef Arnold das erste Mal auf der Alp. Er habe aber die ersten zwei, drei Sommer noch nicht viel genützt, meint Josef Arnold. Von Unterschächen bis zur Seilbahn gab es noch keine geteerte Strasse wie heute, sondern nur einen holprigen Fahrweg. Er konnte nur mit einem Jeep befahren werden. Ein Bekannter, er besass einen Landrover mit Anhänger, half der Familie Arnold jeweils beim Zügeln. Kurz vor der Seilhütte führte eine wackelige Holzbrücke über den Bach. Auf zwei lange Trämel waren quer einige Holzbretter gelegt. «Wir mussten vor der Brücke immer aussteigen, Vater hatte Angst, dass der Landrover zu schwer wäre», erzählt Josef Arnold.

«Als Bauarbeiter und Älpler, besass mein Vater keine eigenen Tiere. Er nahm die Kühe von seinem Bruder und ein paar Lehnkühe z Alp, total 14 Tiere. Die ganze Familie war z Alp. Wir waren sieben Personen. Mutter besorgte den Haushalt und kochte und wir Kinder mussten mithelfen. Als Ältester hatte ich am meisten Verantwortung. Wenn zum Beispiel Vater am Seilen war, habe ich mit meinem Cousin Josef gekäst.» Dass er keine Ferien hatte, bereut Josef Arnold nicht, im Gegenteil: «Die Zeit auf der Alp war eine Lebensschule. Wir arbeiteten den ganzen Tag: Kühe in die Planken treiben, Holz haken, Melken, Käsen, Zentrifugieren, alles von Hand. Es gab keine Motoren, kein Strom, kein Telefon. Wir mussten uns mit den Werkzeugen behelfen, die wir auf der Alp zur Verfügung hatten. So lernten wir praktisch und überlegt arbeiten.»

«Die Alp war nicht nur Arbeit», erzählt Josef Arnold. «Wenn wir das erste Mal frischen Anken hatten, haben wir in einer Woche

21 Kilogramm Brot gegessen. Im Laden des Restaurants Rose in Unterschächen fragten sie uns, ob wir auf der Sittlisalp eine Filiale aufgetan hätten.»

 

Mit 12 Jahren Seilwart

Seilen lernte Josef Arnold von seinem Vater: «Bereits als Bub durfte ich die Seilbahn bedienen, Vater löste eine Spezialbewilligung beim Kanton. Ich war erst 12 Jahre alt. Alles war mechanisch, Auskuppeln, Einkuppeln, Gas geben. Fuhr man zu schnell, stellte die Bahn automatisch ab. Einmal, es war an einem regnerischen Tag, sassen wir in der Hütte und jassten. Als das Seilbahntelefon läutete, musste ich das Spiel unterbrechen, rannte zur Seilbahnstation, startete die Bahn und seilte. Zu schnell. Plötzlich stellte die Bahn ab. Ich startete den Motor erneut – die Bahn fuhr weiter. Im Bähnchen sass der Schwander Joder selig, der Wildhüter mit seinem grossen, weissen Bart. ‹So bisch eppä am Jässlä gsi›, begrüsste er mich. ‹Ich ha tänkt, äs pressiäri eppän ä chli›. Dass die Bahn für einen Moment stillstand, kümmerte ihn keinen Moment. Die Bahn war sicher, passieren konnte nichts.»

 

Beim Brand alles verloren

«Mein Vater spielte auf der Alp oft aus seiner Handorgel. Mit dem Denier Sepp, er spielte Klavier und seinem Bruder Wisi am Klarinett, trat er gelegentlich auf. Seine Eichhorn-Orgel war einzigartig, ein Sammler wollte sie kaufen, Vater gab sie nicht.»

Die Familie Arnold wohnte in einem Holzhaus in Bürglen, in der Schiesshausmatte. Heute steht dort die Sporthalle. In der Nacht vom 15. Januar 1967 stand Haus in Flammen. Die Eltern weckten die Kinder, der Vater rannte mit dem kleinsten Kind ins Freie. Zurück konnte er nicht mehr, das Treppenhaus brannte bereits lichterloh. Darauf befahl er den Kindern und seiner Frau die Decken und Matratzen aus dem Fenster zu werfen und aus dem ersten Stock zu springen. Die Familie konnte sich retten, hatte aber nichts mehr. Alles war verbrannt, die Kleider, die Möbel, das Geld und die kostbare Handorgel.

 

«In Brügg konnte mein Vater ein Haus kaufen. Ich habe ihm geholfen, mit meinem Lohn als Bauarbeiter das Haus zu finanzieren. Darum konnte ich nach der Schule keine Lehre machen. 1979 kam ich zur Bahn und heiratete meine Frau Esther. Vier Kinder kamen zur Welt, drei Buben und ein Mädchen.» Jede freie Minute, sowie die Winter- und Sommerferien, verbrachte die Familie Arnold auf der Sittlisalp, in der Hütte auf dem Vorderen Boden. Hier lernten die Kinder Skifahren, bauten Schanzen, konnten Herumrennen und ungestört spielen.

Nach fünf Jahren Rangierdienst in Erstfeld und 22 Dienstjahren beim Depot, wechselte Josef Arnold 2006 zum Rettungszug.

Am 31. Oktober 2018 liess er sich pensionieren.

 

Ohne Freiwilligenarbeit geht nichts

Seit 26 Jahren wird die Seilbahn während der Alpzeit von Bernadette und Josef Arnold-Furrer bedient. Im Winterhalbjahr fährt die Bahn während rund 130 Tagen jedes Wochenende. Bei unsicheren Wetterverhältnissen, Wind, starkem Schneefall (Lawinengefahr), ist die Bahn ausser Betrieb.

Bedient wird die Seilbahn von 12 freiwilligen Maschinisten, die alle eng mit dem Tal verbunden sind. Mit Festangestellten, ginge das nicht, meint Josef Arnold. «Da könnte man im Herbst den Schlüssel drehen und die Bahn erst im Frühling wieder starten.»

«187 Maschinenstunden haben die Maschinisten in der Vor- und Nachsaison 2016/2017 geleistet», schreibt der Betriebsleiter Gustav Bissig im Jahresbericht 2017. Nebst dem Fahrdienst helfen die Freiwilligen auch beim Unterhalt der Bahn.

Ich schaue aus dem Fenster. Verschneite Tannen, Schneeflocken. Das Seilbahntelefon läutet. Josef Arnold seilt die letzten zwei Fahrgäste. Wenig später ziehen sie heimwärts, die Kapuzen hochgeschlagen, die Schneeschuhe seitwärts am Rucksack verstaut.

«So, jetzt gehen auch wir heim», sagt Josef Arnold. Er packt den Rucksack, nimmt sämtliche elektrischen Geräte vom Strom, schliesst die Fensterläden und die Türe der Seilhütte.

Gemeinsam gehen wir zurück nach Unterschächen. In der Nähe Brücke vor dem Weiler Bielen, befindet sich ein kleines Schild in Form einer Seilbahn. Josef Arnold zieht die grüne Schrifttafel «in Betrieb» aus dem Schild, dreht sie um und schiebt sie zurück.

«Ausser Betrieb» steht auf der Rückseite. Wir verabschieden uns, er steigt ins Auto und fährt zurück nach Altdorf.

Am Heiligen Abend wird bei ihm ein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum liegen – ein kleines Dankeschön der Seilbahngenossenschaft für die freiwillige Arbeit des Maschinisten.

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