Auf der Spur der Wilderer
In Wolfenschiessen erhitzt eine Wilderergeschichte noch heute die Gemüter: der «Fall Scheuber» – der Doppelmord eines Nidwaldners an zwei Obwaldner Wildhütern vor 120 Jahren. Dölf Mathis, 39 Jahre lang Wildhüter, weiss von vielen weiteren Fällen, Namen will er keine nennen.
Der Mordfall Scheuber
In Nidwalden, viel länger als in der übrigen Schweiz, war die Jagd frei – Gemsen, Steinböcke, Hirsche und Rehe waren fast ausgerottet. Mit dem Bundesgesetz für Jagd- und Vogelschutz 1875 wurde die Jagdzeit massiv eingeschränkt und in den Banngebieten vollständig verboten. Kantonale Wildhüter überwachten die Jagd und bekämpften die Wilderei. In Nidwalden gingen viele Jäger weiterhin ausserhalb der erlaubten Jagdzeit auf Jagd. Sie wurden von der Bevölkerung als abenteuerliche, mutige Gesetzesbrecher bewundert. Die Konflikte zwischen Wilderern und Wildhütern beschränkten sich auf harmlose Geplänkel – bis zum 14. Oktober 1899. An diesem Tag erschoss der Nidwaldner Zimmermann Adolf Scheuber aus Wolfenschiessen den Obwaldner Wildhüter Werner Durrer und dessen Sohn Joseph Durrer im Jagdbanngebiet auf der Gruobialp im Kanton Obwalden. Nach seiner Festnahme gelang Scheuber die Flucht ins Ausland und er wurde nie mehr gefasst. Die letzte gesicherte Spur verlor sich 1901 in Montevideo, Uruguay. Der Fall Scheuber beschäftigte nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die nachfolgenden Generationen. Die Brutalität der Tat, die Flucht des Mörders und das rätselhafte Untertauchen waren aussergewöhnlich und lassen noch heute viel Raum für Spekulationen und Vermutungen.
Zu Besuch bei Dölf Mathis
Zuhinterst in malerischen Bergdorf Oberrickenbach, dort wo sich Gemsen und Hirsche Gute Nacht sagen, wohnt der pensionierte Wildhüter Dölf Mathis. 1938 geboren, aufgewachsen mit 6 Geschwistern auf dem Bergbauernhof Fell. Mit dem «Fall Scheuber» ist Mathis von klein auf vertraut. Im Sommer schaute er auf der Eigenalp Schindelboden zu Kühen und Rindern, im Winter trainierte er auf Skiern Slalom. Direkt beim Haus, ohne Skilift, ohne Piste. Dölf Mathis wurde sechs Mal Schweizer Meister im Slalom, 1962 gewann er den Lauberhorn-Slalom und war «Sportler des Jahres».
Am 1. August 1964, mit 26 Jahren, wurde Dölf Mathis vom Landrat des Kantons Nidwalden zum Wildhüter gewählt und vereidigt. Seine Aufgabe: die Überwachung des Eidgenössischen Banngebiets Huetstock. Dieses erstreckt sich von Trübsee, oberhalb Engelberg, über den Graustock, den Huetstock, das Widderfeld bis zum Stanserhorn. Es umfasst rund die Hälfte des 276 km2 umfassenden Halbkantons. Bei seinen Kontrollgängen war er meist allein unterwegs, zu Fuss oder auf Skiern. Jeden Abend schrieb er pflichtbewusst seine Wegstrecken und Beobachtungen in sein Rapportbuch.
Dölf Mathis weiss von mehreren Ereignissen, bei denen Wilderer getötet wurden, zwei Fälle sind Gegenstand eines Dokumentarfilms: «Im Januar 1950 kamen Josef Arnold und Franz Arnold, ein Onkel von mir, beim Wildern in eine Lawine. Gefunden hat man sie erst Juni nach der Schneeschmelze», erzählt Dölf Mathis. «Am 27. Oktober 1979 fand man Jost Arnold erschossen in seinem Bett auf der Alp Lauchern. Die Todesumstände wurden nie aufgeklärt, das gab Anlass zu Spekulationen. War es Suizid? War es Mord?»
Gegenseitiges Abpassen
«Die Jagd nach Wilderern glich einem Katz-und-Maus-Spiel. Die Wilderer beobachteten den Wildhüter und umgekehrt», berichtet Mathis. «Alles wurde genau registriert. Die Wilderer achteten genau, wo das Auto des Wildhüters stand. Die Wilderer hüteten sich, in der Nähe auf die Jagd zu gehen. Als ich einmal einen dreitägigen Wildhüterkurs besuchte, stellte ich darum jeden Tag mein Auto genau dorthin, wo die ‚Schlimmsten’ in dieser Gegend wohnten. Ich war tagsüber weg und für die Wilderer trotzdem präsent.»
In den 1950er-Jahren besassen die wenigsten Haushalte in Oberrickenbach ein Telefon. Die Familien der Wilderer setzten darum Zeichen. War die Polizei oder der Wildhüter in der Nähe hängte, man beim Haus ein weisses Leintuch an die Wäscheleine.
«Die Wilderer gingen morgen früh aus dem Haus, schossen ein Tier, nahmen es aus und hängten es irgendwo in einen Stall. Tagsüber besuchten sie zum Beispiel einen Viehmarkt, wurden gesehen und hatten so ein Alibi. Nachts holten sie das Tier und brachten es nach Hause. Am meisten wurde nach der Jagd gewildert», sagt Dölf Mathis. «Die Bauern gingen im Winter in den Wald zum Holzen. Einige hatten immer ein Gewehr dabei. Sie holzten und schossen illegal Tiere. Viele wurden gar nie erwischt. Oft jagten die Wilderer in Gruppen, hatten ihre Taktik und Ablenkungsmanöver. Wenn jemand mit mir auf einen Kontrollgang wollte, war ich gewarnt. Meist war dies nur ein Vorwand. Die Wilderer wussten so, in welchem Gebiet der Wildhüter unterwegs war und konnten anderswo ungestört Tiere jagen.»
Wilderer stellen
«Wildern ist eine Sucht. Es gab Wilderer, die haben sogar Gemsblut getrunken. Wilderer stellen, war gefährlich. Dazu brauchte es Psychologie und überlegtes, ruhiges Handeln. Man musste mit Affekthandlungen rechnen ich ging darum nie direkt auf die Person zu. Ein Mal hörte ich ausserhalb der Jagdzeit zwei Schüsse im Laucherngebiet. In der Nacht fuhr ich auf gut Glück dorthin, wo ich den Wilderer vermutete. Ich wartete in der Nähe eines kleinen Stalles, rund 20 Meter entfernt in einem Versteck. Nach rund zwei Stunden sah ich das Licht einer Stirnlampe. Ein Mann tauchte auf, stieg die Leiter beim Stall hoch. Auf dem Rücken trug er eine Gemse. In diesen Moment habe ich ihn angesprochen. Er kam auf mich zu, legte die Gemse auf den Boden. Ich machte Rapport und nahm das Tier mit.» Meist stellte jedoch Mathis die Wilderer nicht selber, er informierte die Polizei, die hat dann daheim auf den Wilderer gewartet.
«In den Siebzigerjahren bekam ich vom Kanton ein Funkgerät und hatte so direkten Kontakt mit der Polizei. Bekam meine Frau Theres daheim einen Anruf, hat sie auf den Polizeiposten telefoniert und die Polizei hat mir nachgefunkt. Ich konnte so verschiedene Aufgaben erledigen, wenn ich in der Nähe war. Und meine Frau wusste, wo ich war und musste sich weniger Sorgen machen. Daheim hatten wir keinen Funk, die Kommunikation nach Hause funktionierte nur über die Polizei und war ziemlich kompliziert. Später kaufte ich mir ein Natel.»
«Ich kannte einen im Gebiet Arni, den packte das Jagdfieber bereits im August. Er musste auf die Jagd, ein, zwei Tage, war ein Getriebener. Danach hatte er wieder ein paar Tage Ruhe. Als ich ihm einmal nach einem Hegeabschuss eine alte Gemse zeigte, meinte er nur trocken: ‹Früher wären die nie so alt geworden.›»
Lieblingstier Gemse
In der Stube von Dölf Mathis hängen, nebst einem sechs Meter und anderthalb Meter hohen langen Kranzkasten voller Medaillen, Pokalen und Abzeichen Geweihe und Köpfe ausgestopfter Gemsen, seinen Lieblingstieren. Lebendige Rehe, Gemsen, Hirsche und Steinböcke kann er von seiner Terrasse aus beobachten. Dölf Mathis zeigt ein Foto eines Luchses. «Mitten im Tag spazierte ein Luchs vorbei, ich konnte ihn durchs Fernrohr fotografieren.» Auf einem anderen Bild ist der Wildhüter mit einem Adler zu sehen. «Ich bekam ein Telefon – In der Obermatt bei Mettlen sei ein Steinadler in ein Seil geflogen. Ich habe den Adler heimgenommen und ins Auto gesetzt. Plötzlich sass er auf dem Rücksitz auf der Lehne. Er war ein wenig beduselt, gemacht hat er mir nichts. Der Adler musste ins Tierspital. Nach einem Monat habe ich ihn am gleichen Ort wieder ausgesetzt, wo ich ihn gefunden habe. Plötzlich kam ein zweiter Adler, ein Weibchen. Sie hatte auf ihn gewartet, ihn abgeholt und zusammen sind sie Richtung Arnitobel geflogen.»
39 Jahre lang war Dölf Mathis Wildhüter – nie hätte er sich eine andere Arbeit vorstellen können. Vor 20 Jahren kaufte sich er sich einen Schilter mit Seilwinde zum Holzen. Fast jeden Tag verbringt der ehemalige Wildhüter im Wald, zur Aufbereitung von Brennholz für den Eigenbedarf. Er fällt im Auftrag Weisstannen oder Mondholz und ist Schindelmacher. Immer dabei ist sein Feldstecher – vielleicht streift wieder Mal ein Luchs vorbei.