Baroke Volksfrömmigkeit

Bei Einbruch der Dunkelheit beginnt in Mendrisio die eindrucksvolle Gründonnerstagsprozession, in der 270 Personen den Gang Christi zum Kalvarienberg nachspielen.

 

Leuchtende Bilder

In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bauten Mönche des Ordens «Servi di Maria» in Mendrisio ein Kloster und begründeten die Prozessionen in der Karwoche. Auf diese lange Tradition sind die Einheimischen stolz. Ebenso einzigartig sind die über 100 Transparente, von innen beleuchtete Leuchtkästen mit biblischen Szenen. Hergestellt wurden sie in einer speziellen Technik: In Öl auf Leinwand gemalt, präparierte man die Bilder so lange mit Wachs und harzhaltigen Lacken, bis sie durchscheinend wirkten und wetterfest waren. Die Transparente kennzeichnen den Weg der Prozessionsroute. «Tore» nennt man die grossen Leuchtkästen, die über den Gassen angebracht sind. «Segel» heissen die kleinen Leuchtkästen, die an Häusermauern oder Balkonen hängen.

 

Inszenierung des Glaubens

Im 17. Jahrhundert konnten die wenigsten Menschen lesen oder schreiben. Die Kirche vermittelte ihre Glaubensinhalte durch Bilder, eine zentrale Bedeutung spielten die Augen: «Durch die Augen erkennt der Mensch die Dinge der Welt, was durch die Augen einfällt, gelangt geradewegs ins Herz – das Auge des Herzens erkennt Gott», war die Lehre der katholischen Kirche. Daher haben die Begriffe Sehen und Schauen eine doppelte Bedeutung: Weil sie sowohl die visuelle Wahrnehmung und zugleich die innere Erkenntnis meinten, hiess sehen immer auch verstehen, begreifen, erkennen. In der Kunstform des Barock fand dieses Denken ihren künstlerischen Ausdruck und erfuhr in den Kirchen als «theatrum sacrum» als heilige Schaubühne die höchste Steigerung. Architektur, Plastik und Malerei verschmolzen zu einem Gesamtkunstwerk mit dem Ziel die Menschen zu erstaunen und zu überwältigen.

Theatralische Inszenierungen sind auch die jahrhundertealten, barocken Karwochenprozessionen von Mendrisio, in denen der Kreuzweg Christi, von der Verurteilung durch Pontius Pilatus bis zur Kreuzigung und Grablegung, wird von Laienspielern anschaulich nachgespielt wird.

 

Die Gründonnerstagsprozession

Über der Stadt leuchtet der Vollmond, zum Glück. Die reichen, kostbaren Kostüme wurden 1898 von der Mailänder Scala erworben. Weil die Kleider einen hohen Wert haben, wird die Prozession nur bei gutem Wetter durchgeführt.

Um 20.45 werden gleichzeitig alle Transparente beleuchtet und tauchen die verdunkelten Gassen in ein warmes, zauberhaftes Licht. Alle Strassenlampen sind gelöscht, die Schaufenster dunkel und aus den Fenstern der alten Häuser dringt kein Licht. In den engen Gassen stehen die Menschen dichtgedrängt, auf dem Piazza del Ponte bei der Tribüne haben sich das Tessiner Fernsehen RSI und einige Fotografen positioniert. Es ist der einzige Ort, an dem Scheinwerfer die Szenerie beleuchten. Um Halbzehn sind erste Fanfarenklänge zu hören, wenig später taucht die Spitze des Umzugs unter einem der beleuchteten Tore ins Licht.

Trompeter, hoch zu Ross, römische Infanteristen, König Herodes, Pontius Pilatus, die drei Marien, zwei Diebe in Ketten, Hebräer, Kinder und 40 Pferde. 270 Frauen, Männer und Kinder führen die einzelnen Szenen auf. Ohne Dialoge, der Ausdruck beschränkt sich auf Gesten und Körperhaltung. Mittendrin Jesus mit Dornenkrone, das Kreuz schleppend – leidend. Er wird geschlagen, bricht unter den Rufen «Kreuzigt ihn, kreuzigt ihn!» zusammen. Veronika wischt ihm Schweiss und Blut aus dem Gesicht. Trotz der vielen Zuschauer ist es ganz still, bis der Zug nach zwei Stunden den Ausgangspunkt, die Kirche San Giovanni erreicht. Dann wird der Schalter umgekippt, die Strassenlampen leuchten und in den Gassen, Bars und Restaurants lassen die Einheimischen den Abend ausklingen. Wer die Augen schliesst, hört die melodiöse, warme Sprache, die Zurufe, das Palaver, den Klang – das tönt so anders als bei uns im Norden. Das ist der Süden, die mediterrane Schweiz, das Tessin.

 

Museo del Trasparente

Wer die Transparente während der Osterprozessionen nicht gesehen hat, kann einen Teil im Museum von Mendrisio besichtigen. Die Transparente sind Meisterwerke von einheimischen Künstlern aus Mendrisio, Rovio, Lugano und Bellinzona. Der bekannteste war der Kirchenmaler Giovanni Battista Bagutti (1742–1823) aus Rovio.

Museo del Trasparente, Piazzale Municipio, 6850 Mendrisio. Öffnungszeiten: Mai bis Dezember, Do und Sa 14–18 Uhr, Eintritt frei.

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