Der neue Kolonialismus
Seit über 35 Jahren arbeitet der Altdorfer Hugo Gisler in der Entwicklungszusammenarbeit, in der Nothilfe oder im Wiederaufbau in über 30 Ländern rund um den Globus. Seine Motivation gilt der nachhaltigen Verbesserung der Lebenssituation von Mittellosen, denen es am Notwendigsten, an Wasser, Land und Nahrung fehlt.
Hugo Gisler, der freundliche, bescheidene Mann mit dem grauen Bart hat seine «Homebase» in Altdorf aufgeschlagen. Von Beruf Tropenagronom war er in über 30 Ländern Afrikas, Asiens oder im Balkan tätig. Manchmal für Monate, oft für Jahre. Seine Arbeitgeber sind nebst dem IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) die DEZA, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes, Intercooperation, WFP (World-Food-Programm, UN-Welt-Ernährungsprogramm) oder Industriefirmen, wie die Remei AG in Rotkreuz, die im ökologischen Anbau von Biobaumwolle tätig ist.
Wie wird man Tropenagronom?
Ich besuchte das Kollegium in Altdorf, schon während des Studiums interessierte mich die Entwicklungszusammenarbeit. Tropenagronomie konnte man in den 1970er-Jahren nicht studieren, also habe ich mir mein Studium selbst zusammengezimmert, mit Semestern Forst- und Agrarwirtschaft an der ETH, und am Tropeninstitut in Basel.
Was stand bei Ihnen im Vordergrund?
Ich wollte die problematischen Seiten der Welt kennen lernen, nahe dran sein, wo Politik gemacht wird in den verschiedensten Krisen- und Konflikt-Situationen, als Voraussetzung für ein «zusammen entwickeln», um lokale Lösungen zu schaffen.
Keine Erfahrung und grosse Pläne, was nun?
Der ideale Bewerber für die Entwicklungszusammenarbeit musste 35 Jahre alt sein, mit 10 Jahren Berufserfahrung und nicht verheiratet. Ich war erst 26, hatte keine Erfahrung, viele Bewerbungen verliefen im Sand. Das Deutsche Unternehmen Buchler GmbH in Braunschweig gab mir eine Chance. Die Firma handelte mit Chinin-Sulfaten, das von China-Rindenbäumen gewonnen wird, hauptsächlich zur Herstellung von Herzmedikamenten und zur Malaria Prophylaxe. Sie suchte einen Plantagen-Manager für ihre 600 Hektaren grossen Tee-, Kaffee- und Chinarinden-Pflanzungen im Grenzgebiet zwischen Kongo und Ruanda, am Kivusee. Dort arbeitete ich zwei Jahre: Ein klassischer Fehlstart also für eine Karriere in der Entwicklungszusammenarbeit oder der Versuch auf Umwegen Erfahrungen zu sammeln!
Nach einem Engagement als Aushilfslehrer an der Sekundarschule in Altdorf und einer erneuten langen Vorstellungsrunde bei verschiedenen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, bekam ich 1985 meinen ersten Job. Mein Arbeitgeber war die «Intercooperation», eine private schweizerische Entwicklungsorganisation zur Umsetzung von DEZA-Projekten.
Was war das für ein Projekt?
Ich wurde ins südliche Hochland von Tansania geschickt, um Kleinbauern zu beraten. Mit dem Ziel durch Einkreuzen des lokalen Rindviehs die Milchleitung zu steigern und damit das Einkommen und den Lebensstandard der Bauernfamilien zu verbessern.
Haben Sie das Ziel erreicht?
Der Erfolg oder das Gelingen beruht immer auf Gegenseitigkeit und stützt sich auf das Zwischenmenschliche, oder wie es so schön heisst, auf die Sozialkompetenz. Wenn es mir gelingt die Partner, in diesem Falle Kleinbauern, aus ihrem Verständnis von: wir haben nichts, also können wir auch nichts erschaffen, herauszuführen und auf «Aha»-Niveau anheben, ist der halbe Erfolg gesichert.
Nach drei Jahren zählte ich in meinem Distrikt 3000 aktive Projekt-Bauern. Neben dem Pflanzenbau, Tee, Mais, Kaffee, Bohnen, erarbeiteten sich die Bauern ein zweites Standbein, die Milchproduktion. Damit steigerten sie ihr Einkommen. Sie bauten Milchsammelstellen, 0rganisierten sich in Genossenschaften. Molkereien und Käsereien entstanden.Wir machten nichts anderes,
als das Knowhow der Bauern erweitern und sie an den Markt anbinden, damit sie ihre Produkteverkaufen und davon leben können.
Das Landwirtschaftsministerium von Tansania verankerte diesen Projektansatz als ihre Landwirtschaftspolitik der Zukunft.
Wie funktioniert Entwicklungszusammenarbeit?
Es braucht den gegenseitigen Respekt, selbst wenn es nicht so toll läuft. Die Partner in der Nothilfe, dem Wiederaufbau oder der Entwicklungszusammenarbeit, vom Staatsfunktionär bis zum einfachen Bauern, bringen die unterschiedlichsten Voraussetzungen mit. Es ist die die grösste Herausforderung, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Eine nicht alltägliche Herausforderung war die Zusammenarbeit mit Menschen, die weder lesen, schreiben und rechnen können. Der Süd Sudan ist diesbezüglich ein Extremfall. Ausbildung ist das «A und O» jeglicher Zusammenarbeit und Entwicklung.
Warum versagt das Bildungssystem?
Von der Ausbildung, aber nicht nur, leite ich einen Grossteil des Versagens der Entwicklung im Arabischen wie Afrikanischen Kontext ab. Ausnahmen bestätigen die Regel. Weshalb der Nahe Osten und Afrika wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch derart im Rückstand sind, liegt in den Bildungszielen. Es fehlt das kritische Denken, die Kultur der Neugier und des Fragens. Im Afrikanischen Schulsystem glänzt, wer am besten nachahmen und auswendig lernen kann. Das Verstehen und das Erkennen von Zusammenhängen bleibt auf der Strecke. Das logische Verknüpfen und Vernetzen ist kein Bildungsziel.
Ist Bildung die Basis für Entwicklung und den Weg aus der Armut?
Ein gutes Bildungssystem unterstützt in erster Linie die Volkswirtschaft mit dem Ziel die Menschen zu ernähren, ihnen Arbeit und Perspektiven zu geben. Die Produkte, die in Nachbarländern oder auf dem Weltmarkt verkauft werden können, bilden die Basis. Wenn dazu noch Rechtssicherheit geschaffen wird, mit dem Recht auf Eigentum für alle, dann werden Grundlagen für eine selbständige Weiterentwicklung gelegt. Es ist nicht das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit Länder wie Burundi oder Ruanda in kürzester Zeit in eine Schweiz zu verwandeln. Dies weckt Wünsche nach mehr, macht abhängig und verzerrt Staatsbudgets. Zudem wird die Arbeit erledigt für welche die Regierung zuständig sein sollte.
Die neuen Kolonialisten kommen als Investoren. Was passiert hinter den Kulissen?
Mich interessieren die Hintergründe: Warum entstehen Konflikte? Eine der wichtigsten Ursachen ist der Machtfaktor Erde, der Run auf Bodenschätze. Saudi-Arabien ist nur einer der Global Player, die auf Beutezug gehen. Die Arabischen Emirate sind auf demselben Weg. Südkorea und Indien mischen schon lange mit und China ist mit seinen prall gefüllten Devisenkonten der gierigste Käufer, getrieben von Überschwemmungen und Dürren zuhause. Eine Reihe befestigter Häfen und Militärbasen, die sogenannte Perlenkette, die sich auf den Karten der Strategen offenbart, zieht vom Chinesischen Meer rund um Indien und Pakistan hinüber bis nach Kenia. Dort baut China in Lamu einen der grössten Häfen der Welt, um die Schätze Afrikas abzuholen.
Welche Strategie verfolgt China?
Im Fokus ist das fruchtbare Ackerland in Ostafrika. Der Klimawandel hat es noch wertvoller gemacht. In vielen Teilen der Welt wachsen die Wüsten und verschlingen die Felder, gleichzeitig explodiert der Bedarf an Getreide. Welthandel, Regierungen und Konzerne haben hier längst reiche Beute im Visier. Neue Kolonialmächte sind längst im Vormarsch, derweil der Ähtiopische Bauer Antengne Abe noch glaubt, es habe endlich eine bessere Zeit für ihn begonnen. Als er ein kleiner Junge war, hat sein Vater der Erde einmal im Jahr eine magere Ernte abgerungen. Mit dem Bau eines Staudamms beim Tanasee wurde alles anders. Das Wasser des Blauen Nils bewässert über ein Kanalsystem das ganze Jahr sein Ackerland. Jetzt lebt Antengnes Familie zum ersten Mal nicht von der Hand in den Mund.
Er hat jetzt drei Ernten im Jahr. Antengne Abe kann einen Teil seiner Ernte auf den Markt bringen. Zum ersten Mal gibt es eine Zukunft. Eine schöne Geschichte aus Afrika und ich freue mich sie zu erzählen. Aber es ist nur die halbe Wahrheit.
Das klingt wie ein Märchen.
Äthiopien, drei Mal so gross wie Deutschland, ist ein Land der Extreme. Wenn wir den Namen Äthiopien hören, denken wir an die erschreckenden Bilder von verhungernden Kindern. Aber hier gab es einmal stolze Hochkulturen. Äthiopien ist auch gesegnetes Land. Afrikas Wasserturm. Weil die Wolken im Hochland abregnen, fliesst viel Wasser vom Quellgebiet des Blauen Nils, auf 2730 m ü. M., in den Tanasee. Der Blaue Nil zieht sich als 1800 Kilometer grünes Band durch Sudan und vereinigt sich mit dem Weissen Nil bei der sudanesichen Stadt Omduram zum Nil, zum zweitlängsten Fluss der Welt, der in Ägypten ins Mittelmeer mündet. Ohne den Nil gäbe es in Ägypten nichts als Steine und Sand und Wind. Äthiopien beginnt zu begreifen welchen Reichtum dieser Fluss bedeutet und ist immer weniger bereit ihn einfach wegfliessen zu lassen. «Wasser ist der einzige Grund, der Ägypten noch einmal zu einem Krieg treiben kann», drohte einst der ägyptische Präsident und Friedensnobelpreisträger Anwar as-Sadat.
Mit der Globalisierung werden die armen Länder erneut kolonialisiert. Was bleibt von der Entwicklungszusammenarbeit übrig?
Fruchtbares Ackerland wird zur Tragödie, so paradox dies klingt. Die Region Gambela, im Südwesten von Äthiopien, hat viel fruchtbares Land und ausreichend Regen. Die Regierung hat 42 Prozent der Fläche Gambelas an ausländische Investoren verpachtet. Ein Konzern aus Saudi-Arabien hat sich dort einen ganzen Landstrich unter den Nagel gerissen. Das ist kein Mega-Projekt sondern ein Giga-Projekt. Versuchsanlagen für Reis. Reis gehört hier nicht her. Äthiopien kennt dieses Getreide nicht. Die industrielle Landwirtschaft fletscht ihre Zähne.
Was ist aus den Menschen geworden, die da früher ihre Felder hatten?
Ihre notdürftigen Unterkünfte sind über die ganze Region verstreut. Sie wurden nicht gefragt, ob sie ihr Land abtreten wollen, sie wurden verjagt, völlig legal. In der sozialistischen Diktatur Äthiopiens gehört alles Land der Regierung. Diese Familien haben ihre Felder seit Generation bebaut, aber das gab ihnen kein verbrieftes Recht, das sie hätten einklagen können. Nun sind sie im eigenen Land nur noch geduldet. Abgesunken von Bauern zu Almosenempfängern, weil ihr Land zu wertvoll wurde.