Die andere Käserin

EIN BEITRAG VON THOMAS BOLLI

 

Im Keller des ehemaligen Hotels «Furkablick» reifen säuberlich aufgereiht ein Camembert, ein Cheddar, ein Gouda, zwei Tommes, ein Limburger, ein Blauschimmelkäse, ein Ziegenkäse. Cristina Consuegra kümmert sich täglich um sie und notiert minutiös, was sie macht und was mit diesen Laibern passiert – ein Protokoll der Transformation von Milch zu Käse.

Die Rezepte für die Käse hat Cristina Consuegra in Büchern gefunden und auf grosses Papier geschrieben. Nein, sie habe noch nie Käse gemacht, ausser einmal vor zwei Monaten in Kolumbien, da habe sie einem Käser zugeschaut. Sie habe auch nicht vorgehabt, auf der Furka Käse zu machen, als sie hierhergereist sei, sagt die 33-Jährige.

 

Zusammen mit einer Künstlerin

Eingeladen ins Urnerland wurde Cristina Consuegra vom Institut Furkablick. Es unterhält auf der Furka die Gebäude, konserviert die zahlreichen Kunstobjekte und betreibt das Café. Cristina Consuegra lebt den ganzen Sommer über auf dem Pass, zusammen mit Liliana Sánchez, einer Künstlerin, die ebenfalls aus Kolumbien stammt. Die beiden haben im vorigen Jahr zusammen das Biotop eines Moors studiert und fermentierte Produkte hergestellt, die den Stoffwechsel im Torf zeigten und bei denen eine ähnliche Fermentation wie bei der Milch abläuft. In einer Notiz von Cristina Consuegra heisst es: Wenn der Wind nur dann existiert, wenn er bläst, lebt dann das Erdreich nur, wenn etwas verrottet?

«Liliana zeigt mir neue Wege und sie gibt mir den Anstoss, über das wissenschaftliche Arbeiten und die gängigen Kategorien hinauszugehen. So kann ich als Anthropologin kreativer werden und verfestigte Denkstrukturen auflösen.» Was Cristina Consuegra auf der Furka macht, ist untypisch für eine Wissenschaftlerin in ihrem Fach. In einem rein akademisch-wissenschaftlichen Zugang zu den Menschen und ihren Lebensbedingungen müsste sie Feldforschung betreiben, die Leute befragen, ihre Erfahrungen aufzeichnen, die Traditionen beschreiben. Aber nicht selber Käse machen.

 

Mensch und Pflanze

Cristina Consuegra stammt aus der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Sie hat dort Anthropologie studiert und in London mit dem Master abgeschlossen. In ihrer Heimat hat sie vor allem die Beziehung von Mensch und Pflanzen erforscht. Dies auf dem Land, aber auch beim sogenannten «urban gardening». Sie wollte nicht nur erfahren, wie die Menschen die Pflanzen verwenden und welche Symbolik sie ihnen zuschreiben, sondern auch, wie sie ihr Leben den Pflanzen anpassen und das kulturhistorisch bedeutsame Wissen rund um Rezepte weitergeben. «Die Nahrung ist ein für mich ein Mittel, um zu verstehen, wie die Menschen leben und wie sie die Landschaft verändern.»

Der Mensch, so Cristina Consuegra, besteht nicht nur aus dem eigenen Erbgut, sondern er lebt dank Millionen von Bakterien. Diese Erkenntnis hat ihr Blick auf die Anthropologie geändert. «Mich interessiert die Beziehung des Menschen zu Nicht-Menschlichem, denn sein Leben funktioniert nur im Zusammenspiel mit Mikroorganismen.» Mikroorganismen sorgen auch dafür, dass sich aus Milch ein Käse entwickelt.

Cristina Consuegra verwendet auf der Furka nur lokale Ressourcen. Die Milch stammt vom Älpler, alle nötigen Geräte fand sie in der Küche des alten Hotels. «Ich erforsche nicht einfach die Bedingungen des menschlichen Lebens hier, sondern ich nehme auch daran teil.» Sie wolle so eine intime Beziehung zum Ort und zum Käse entwickeln. «Die Oberfläche, die ich hier in den Bergen sehe, ist nicht pasteurisierte Milch, sondern ein lebendiger Organismus, eine Zone des ständigen Austauschs», sagt die Kolumbianerin. Der Käse ist ihr Sinnbild für diesen Austausch, und deshalb ist ihr der Prozess schliesslich wichtiger als das fertige Produkt.

 

Das Umfeld mit Kunst

Dass Cristina Consuegra und Liliana Sánchez auf die Furka eingeladen wurden, hat eine lange Tradition, die unauffällig fortgeführt worden ist. In den 1980er- und 1990er-Jahren trafen sich auf Einladung des Neuenburger Galeristen Marc Hostettler Kunstschaffende aus aller Welt auf dem Pass. Sie arbeiteten frei, schufen Werke und inszenierten Aktionen in der grandiosen Landschaft. Der Ort ist ein besonderer geblieben, der sich den Besuchern aber nicht leicht erschliesst.

Dieser Kontext von Kunst, bei dem ein eigener Zugang zur Welt gesucht wird, erlaubt es Cristina Consuegra, Anthropologie anders zu fassen. «Ich weiss nicht, was daraus wird, aber mein Schreiben hat sich definitiv verändert.» Ihr Zugang ist experimentell und spielerisch. Das zeigt sich auch auf ihrem Arbeitstisch. Zettel von unterschiedlichem Papier überdecken ihn fast vollständig. Sie sind sauber angeordnet und beschrieben mit grossen und kleinen Buchstaben in unterschiedlichen Schriften. Daraus schöpft sie beim Schreiben.

Wie kann Anthropologie mit Kunst in Dialog treten – das ist zum Beispiel eine Frage, die sich ihr auf der Furka stellt. «Ich möchte eine Form finden, die mir besser zusagt als die akademische Arbeit, ich möchte eine andere Sprache finden. Aber ich sehe mich dennoch als Forscherin.» Dann fügt sie hinzu: «Der Kontakt mit Kunst formt meine Art zu forschen und zeigt mir, was ich in Zukunft machen will.» Die Käse reifen gleichzeitig im Keller.

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Lebendige Traditionen