Die Madonna der Flösser
Im Bodenwald, beim Bocktritt, wo der alte Weg ins Gitschental aufsteigt, steht in einer abgeschiedenen Waldlichtung unterhalb eines Felskopfs ein Bildstock mit einer Madonna. Eine Lourdes-Grotte? Geranien, Kerzen flackern. Um den Bildstock stehen in Felsnischen Laternen, Kreuze und zwei weitere Muttergottesstatuen. Eine Tafel warnt vor Steinschlag. Jemand hat 2009 ein kleines Alpkreuz hingestellt – in Gedenken eines verstorbenen Älplers? Neben dem Bildstock eine angeschraubte Inschrift: «Gedenktafel – Zu Ehren und zum Andenken an die Holzer und Flösser (‹Flözzer oder Fleezer›), die unter sehr schwierigen und gefährlichen Bedingungen Brennholz aus dem Gitschental förderten.» Eine Gedenkstätte für Flösser?
Zeichen der Volksfrömmigkeit
Wer weiss Bescheid? In Seedorf, direkt am See, wohnt der 84-jährige Walter Wipfli, sein Vater führte eine Holzunternehmung. «Der Palanggenbach bildet die Grenze zwischen Seedorf und Attinghausen. Bei Hochwasser war er gefährlich. Wenn der Bach über die Ufer trat, verursachte er regelmässig Überschwemmungen und Murgänge in beiden Dörfern.» Gegen diese Naturgewalten halfen nur noch Gebete und ein starkes Zeichen: Man baute am Palanggenbach, ein Bildstöckli, platzierte darin eine Muttergottes und unternahm jährlich an Auffahrt eine feierliche Prozession. Die Menschen glaubten an die magischen Kräfte der heiligen Maria: Sie sollte die wilden Wasser bannen und die Dörfer schützen.
Wie alt das Helgenstöckli ist, weiss niemand. Es muss aus einer Zeit stammen, in der man noch nichts von Wildbachverbauungen wusste. Kunsthistorisch scheint es so unbedeutend, dass es im 1991 erschienen Buch der Gemeinde Seedorf nicht erwähnt wird.
Denkmal für Flösser
Holz war lebensnotwendig zum Heizen, zum Kochen. Holz lieferte die Energie. Der Bach diente als Transportmittel. Bei einsetzender Schneeschmelze im Frühling wurde das im Winter geschlagene und zum Bach gereistete Holz, in den Palanggenbach gestossen und nach Seedorf geflösst. Die Arbeit war gefährlich. Die Flösser vertrauten auf den Schutz der Muttergottes.
1997 befesigte Walter Wipfli zu Ehren der Flösser beim Balanggen-Bildstock eine Gedenktafel: «Bevor das Holz mit Fahrzeugen auf der Strasse oder mit Seilanlagen transportiert werden konnte, benütze man die Wasserkraft des Palankabaches. Das Flössen hatte ein grosse und lange Tradition. Das Holz wurde in der Nähe des Baches gereistet und in 1 m-Stücken gestapelt. Bei der Schneeschmelze stiess man das Holz in den Bach. Mit Hilfe der Wasserkraft und dem Einsatz der Flösser, die mit ihren Flösserstangen das Holz im Wasser behielten, gelangte dieses via Tobel bis zum Palanka-Bildstöckli. Dort hielt ein eingebauter Holzrechen das Holz auf. Mit den sogenannten Holzbärren (speziellen Schubkarren) wurde das Holz zur Weiterverarbeitung an Land transportiert.»
Die Verbauung des Palanggenbachs
Der pensionierte Förster Werner Arnold und und ehemalige Präsident des Kranken-Unterstützungs-Vereins Seedorf veröffentlichte 2013 eine Schrift zum 125-Jahr-Jubiläum: «Der Ursprung der sozialen Einrichtung war die Palanggenbachverbauung.
1882 beschlossen Bund, Kanton, Seedorf und Attinghausen den Wildbach in der Palanggenschlucht mit sechs Sperren, zu verbauen, um die Fliessgeschwindigkeit zu vermindern und das Geschiebe zurückzuhalten.»
1888 begannen die Arbeiten. Arbeiter sprengten Steine, bauten zyklopenhafte Mauern mit Holzträmmeln, Leitern, Pickeln, Schaufeln, Garetten und Stemmeisen. Die höchste Sperre war 12 Meter hoch. Nicht nur die körperliche Arbeit war hart, auch das eiskalte Wasser, der Regen und die Kälte setzten den Arbeitern zu. Arbeiter wurden krank, litten an Fieber, fielen aus. 1888 schufteten 25 Arbeiter im Balanka-Tobel an der Bachkorrektion. «Es war ein stürmischer Regentag und die Arbeit konnte an diesem Tag nicht vor sich gehen», steht in der der Broschüre des Kranken-Unterstützungs-Vereins Seedorf. «Unter einer astbewehrten Weisstanne hatten sich die Arbeiter versammelt und vor dem stürmischen Regen Schutz gesucht.» Es war die «Gründungsversammlung» des Kranken-Unterstützungs-Vereins. Mit einem Eintrittsgeld von 3 Franken und einem Monatsbeitrag von 1 Franken erhielten die Arbeiter bei Krankheit oder Unfall einen Taglohn von 2 Franken ausbezahlt. «Es wurde genau kontrolliert, wenn jemand nicht zur Arbeit erschien», sagt Werner Arnold. Als die Palanggenbach-Korrektion 1900 beendet war «setzte ein fluchtartiger Austritt aus dem Krankenunterstützungsverein ein.»
Köhlerei und Seilanlagen
Der Förster Werner Arnold erinnert sich: «Vor ein paar Jahren setzten Bäume oberhalb von Feldmes, einer der ältesten Alphütten im Gitschental. Wir mussten nicht lange graben, sogleich sind wir auf Holzkohle gestossen. Ich wusste, das im Gebiet Cholleren, zwischen den Alpen Talberg und Feldmes geköhlert wurde. Das war eine Alternative zum Flössen. Das Holz wurde zu Holzkohle verarbeitet, leichter gemacht und in Säcken ins Tal getragen.» In den 1950er-Jahren nahm die Bedeutung der Flösserei ab. «Zum Holzen kamen Seilanlagen zum Einsatz. Die Stämme wurden mehrmals mit Pendelbahnen von einer Talseite zur nächsten geseilt. Bei der Stäubenhöhe war das letzte Seil zum Bodenwald gespannt. Für die Sägerei Hans Gisler aus Altdorf war es ein lukratives Geschäft. Holz war viel Wert. Ein Kubikmeter kostete über 100 Franken, der Taglohn eines Arbeiters betrug rund 20 Franken.»
Die Seedorfer verfolgten die Holzerarbeiten genau. Vielmehr, sie horchten in den Wald und waren parat. Wenn es im Wald «chroste», war dies ein Zeichen, dass sich Stämme beim Seilen lösten und ins Tobel fielen. Manchmal krachte gar eine ganze Beige aufgeschichteter Holzstämme zusammen und rutschte mit lautem Getöse in die Tiefe. Die Arbeiter liessen sie liegen. Auf diesen Moment hätten sie wie «Geier» gewartet, erzählten die Alten. Bachholz war gratis. Die Seedorfer stiegen ins Tobel, zersägten die Stämme in meterlange Stücke, stiessen sie in den Bach und flössten sie ins Tal.
PS: Der Kanton baute nach der Hochwasserkatastrophe von 1977 im Palanggentobel eine 30 Meter hohe Geschieberückhaltesperre und sanierte ab 1987 die alten Sperren in der Schlucht. Innerhalb des Projekts Hochwasserschutz 2008–2019 wurden im Bereich Seeorf/Attinghausen die Seitendämme erhöht und das Bachbett bei der Mündung in die Reuss verbreitert.