Die Renaissance der Ziegen
Pascal Nager und seine Freundin Celine steigen zu den Geissen auf die Alp Deieren im Muttental. Im Rucksack trägt Pascal Nager vier Kilogramm Salz. Steil windet sich der Weg nach oben, tief unten rauscht die Muttenreuss. Pascal Nager schaut auf sein Natel: Das Display zeigt eine schwarz-weisse Landkarte des Gebiets Mutten–Deieren–Stotzigen Firsten. Eine rote, gelbe und blaue Ziege markieren die Positionen verschiedener Ziegengruppen. «Das GPS ist bei der Suche der Geissen eine grosse Hilfe», erklärt Pascal Nager. «Meine Tiere bewegen sich in einem sehr grossen Gebiet. Zehn Tiere tragen Sender. Die Signale der Alptracker werden über GSM, dem Mobilfunkstandard für digitale Mobilfunknetze, von Antennen empfangen und zum Internet-Server geleitet. Zudem kann ich bis zu einer Woche die Bewegungen der Ziegen zurückverfolgen.» Die Fernüberwachung von Ziegen und Schafen hat sich seit 2017 im Urserntal schnell etabliert. Vorbei ist die Zeit, da sich der Hirt bei der zeitraubenden Suche nach seinen Tieren nur auf seinen Feldstecher oder auf Vermutungen und Beobachtungen anderer Personen verlassen musste.
Mit Dreizehn die ersten Geissen
«Zuerst hatte ich als 9-jähriger zwei Jahre Wachteln, später Hasen», erzählt der 26-jährige Pascal Nager. «Eines Morgens bin ich aufgewacht und dachte: es wäre schön Geissen zu haben.» Mit 13 Jahren kaufte er aus seinem ersten Ersparten fünf Ziegen. Sein Vater und seine Mutter unterstützten ihn dabei, unterschrieben Dokumente, stellten Gesuche. Die alten Realper Bauern freuten sich, dass ein Junger anfing und schenkten ihm Glöckchen. Im folgenden Sommer ging Pacal Nager bereits mit 30 Ziegen z Alp.
«Das Handwerk der Ziegenalpung lernte ich bei meinen Grossvater Werner Nager. Er kaufte wie seine Vorfahren die Ziegen im Frühling im Tessin. Bereits als kleiner Bub durfte ich beim Geisshandel dabei sein», sagt Pascal Nager. Von seinem Grossonkel lernte er alles über die Ziegenhaltung, wie das Entwurmen oder die Klauenpflege. Seinen Geissen gab er Namen.
«Im Herbst ging ich mit jeder Geiss einzeln in Realp ins Schlachthaus. Das war hart, hatte ich doch meine Geissen gern bekommen.» Im Schlachthaus herrschte Hochbetrieb: die Grossväter metzgeten und verschnitten das Fleisch, während die Grossmütter die Därme wuschen, das Wurstfleisch durch den Fleischwolf trieben und es mit Knoblauch, Pfeffer, Salz, Rotwein und anderen Zutaten würzten. Die Littli wurden eingesalzen und zum Trocknen aufgehängt.
Als die Geissen mit dem Zug nach Realp kamen
Mit den Schlachtgeissen sicherten die Realper Bauernfamilien ihren Eigenbedarf an Fleisch für ein ganzes Jahr. Sie wurden im Tessin eingekauft, waren im Sommer über auf der Alp und wurden im Herbst geschlachtet. Damit mussten sie nicht gewintert werden. Denn das Heu war stets knapp und reichte nur für ein paar Kühe, Rinder, Schafe und Sömmerungsgeissen. Die Schlachtziegen wurden in Viehwagons mit der SBB nach Göschenen transportiert, im Bahnhof auf die FO umgeladen und nach Realp gefahren und dort ausgeladen. Die Ankunft derZiegen war ein grosses Ereignis. Allein auf der Alp Deieren waren rund 300 Geissen. Dazu kamen die Sömmerungsgeissen, welche die Familien daheim hielten, um die Eigenversorgung mit Milch zu sichern. Die Kühe waren in dieser Zeit auf der Genossenschaftsalp. Im Herbst wurden die Geissen zum Bahnhof getrieben, eingepfercht und ausgeschieden. Jeder Bauer nahm seine Tiere mit. Zwei Tage später begannen die Hausschlachtungen. Gemetzget wurde damals draussen in der Hintergasse.
Tradtionelles Handwerk
Mit viel Engagement führt Pascal Nager in Realp die Geissenhaltung seiner Vorfahren weiter: Mit 70 Sömmerungsgeissen und
130 Schlachtgeissen geht Pascal Nager auf Deieren z Alp. Die Schlachtgeissen kauft er nach Ostern im Tessin. Dabei sind auch einige Gitzi und Böcke. Die Geissen werden für den Transport nach Realp im Raum Bellinzona gesammelt. Dort erfolgt auch die Klauenpflege und das Entwurmen.
Nach dem Alpauftrieb schaut Pascal Nager einen Monat lang täglich zu den Geissen. Der Aufwand lohnt sich: die Geissen von verschiedenen Bauern formieren sich zu Herden und lernen ihren Hirten kennen. Salz gibt er ihnen immer am gleichen Ort, im Gebiet Bärenflue. Die Geissen kapieren schnell und wissen, dass sie ihrem Hirten folgen müssen, um ans begehrte Salz zu gelangen.
«Es gibt Realper, die mich bereits im Frühling auf der Alp besuchen und die Geiss auslesen, die sie haben möchten. Es ist ihnen wichtig Fleisch von einer Geiss zu essen, die im Sommer auf Deiern z Alp war. Dies weckt Erinnerungen an die Jugendzeit, an die Alpen, an die Landschaft», sagt Pascal Nager. Mit seinen 200 Geissen bekämpft Pascal Nager zudem die Verbuschung der Alpweiden. Auch das schätzen die Einheimischen.
Für den Elektriker vom EW Ursern ist die Geissenhaltung mehr als ein Ausgleich zum Alltag: «Ich hocke viel am Abend bis Halbzehn bei den Geissen. Sie kennen dich, sind zutraulich. Das ist schön. Voraussetzung ist jedoch ein ruhiger Umgang mit den Tieren.»
Bereits Mitte September nimmt der Hirt die älteren Geissen und die Gitzi von der Alp. Sie werden im Tessin geschlachtet. Die robusten Geissen bleiben bis Mitte Oktober auf der Alp. Sie überstehen am besten einen Wintereinbruch. «Vor fünf Jahren mussten wir mit den Schneeschuhen die Geissen holen. Über Nacht hatte es einen halben Meter Schnee hingeworfen», erzählt Pascal Nager. Es kommt immer wieder vor, dass Geissen verwildern und im Herbst geschossen werden müssen. «Die Geissen, die ich Urserntal verkaufe, metzge ich in der Urmetzg. Den Einheimischen verkaufe ich noch heute die ganze Geiss. Sie verschneiden die Tiere fachgerecht, die Littli werden eingesalmert und luftgetrocknet. Jede Familie mischt das Wurstfleisch mit Knoblauch, Pfeffer, Salz und Rotwein sowie anderen geheimen Zutaten. Sie haben ihre eigenen Rezepte.»
Geissfleisch im Trend
Der Metzger Ferdi Muheim aus Andermatt, schweizweit bekannt durch seine Kontakte zur russischen Elite und verschiedene Medienberichte, schwärmt vom Geissfleisch: «Es gibt kein besseres und gesünderes Fleisch. Wegen der grossen Nachfrage verarbeite ich das ganze Jahr Ziegenfleisch. Das war nicht immer so. In meiner Jugendzeit wurde in Andermatt traditionell nur im Spätherbst geschlachtet. Schlachttermin war die Woche vor dem Chilbisonntag, dem dritten Sonntag im Oktober.»
Wirscht und Dirrs der Metzgerei Muheim sind nicht nur bei den Urschnerinnen und Urschnern begehrt. Die Fleischspezialitäten aus Andermatt schätzen inzwischen Restaurants in vielen Schweizer Kantonen und bekannte Sternenköche wie Beat Caduff.
Geissen halten die Weiden offen
Nicht nur kulinarisch erlebt das Geissfleisch eine Renaissance. Die Geissenhaltung, lange im Zug der Aufforstung von Lawinenhängen verpönt, wird als nun Landschaftspflege wiederentdeckt. Das ist nichts Neues: Viele ältere Talbewohner erinnern an die Zeit, als das Kulturland im Urserntal noch nicht verbuscht war. Im Frühjahr trieben die Bauern im Tal bis in die 1960er-Jahre rund 1000 Geissen auf die Weiden. Sie frassen die frischen Blätter und Rinden der Erlen. Zudem wurden Erlenholz und die Alpenrosen als Brennmaterial zum Käsen gebraucht.
Mit dem Projekt «Wanderziegenherde» von Pro Natura in Zusammenarbeit mit den Kantonen Uri und Graubünden, Gemeinden und Bauern befreit zurzeit eine behirtete Herde von 200 Ziegen mehrere verbuschte Trockenstandorte von Erlen. Die Tour führt vom Churer Rheintal bis ins Urserntal. Zurzeit befindet sich die Wanderziegenherde am Furkapass.