Verbuschung stoppen
Oberhalb des Gamsbodens, am Gotthardpass weiden 300 Engadiner Schafe. Rund 30 ha gross ist die Versuchsfläche, die Erika Hiltbrunner für ihr Projekt eingezäunt und in sieben Parzellen unterteilt hat. Seit Mitte Juni haben die Schafe ganze Arbeit geleistet: Viele Grünerlenstauden sind bereits abgestorben, nachdem die Schafe die Rinde der Äste mit ihren Zähnen geschält und die Blätter abgefressen haben.
Grünerle als Landschaftszerstörerin
Viele ältere Menschen im Urserntal erinnern sich noch daran, als das Kulturland noch offen war. Bis in die 1960er-Jahre lebten rund 1000 Ziegen im Tal. Im Frühjahr auf die Weiden gelassen, frassen sie die jungen Triebe von Bäumen und Erlen. Und die Bewohner nutzten die Erlenstauden als Brennmaterial daheim und auf den Alpen. Mit dem Strukturwandel in der Landwirtschaft verschwanden die artenreichen Blumenwiesen und mit ihnen viele Pflanzen- und Tierarten. Grünerlen und Weidengehölze, untermischt mit Vogelbeere, bedecken heute riesige Flächen der Talflanken.
Die Grünerle kann biologisch alles
Die Grünerle wird meist nicht höher als 3 Meter, ist stark verzweigt, und niederliegende Äste bewurzeln sich rasch von selbst. Ihr natürlicher Lebensraum sind Bachgräben und Lawinenstriche. Unter dem Schnee wird sie flach gedrückt, im Frühjahr steht sie wieder auf. Daher ist sie kein Lawinenschutz. Ja noch schlimmer: Sie lebt in einer Symbiose mit Bakterien, die aus dem Stickstoff der Luft «Stickstoffdünger» produzieren. Das hat zur Folge, dass der Busch extrem schnell wachsen kann, um sich herum eine Überdüngung erzeugt, der im Unterwuchs fette Kräuter folgen und unter denen kein Waldbaum mit seinen winzigen Samen natürlicherweise aufkommen kann. «Aus diversen Master- und Doktorarbeiten wissen wir inzwischen, dass die Verbuschung mit Grünerlen nicht nur das Aufkommen des Bergwaldes unterbindet. Aus dem Gebüsch fliesst auch überschüssiger Stickstoff als Nitrat in Bäche und Flüsse und entweicht als äusserst wirksames Treibhausgas, als Lachgas, in die Luft», erklärt Erika Hiltbrunner.
Grünerlenbesatz ist kein Wald
Die Grünerlen blockieren die Wiederbewaldung. «Es ist grotesk, dass derzeit das kantonale Amt für Forst und Jagd (Uri) trotz der Änderung des Eidgenössischen Waldgesetzes (1. Juli 2013) dieses unerwünschte Gebüsch immer noch als «Wald» betrachtet und schützt», sagt Hiltbrunner.
«Wenn der Busch sich einmal voll etabliert hat, was in 20 bis 30 Jahren der Fall ist, wirkt eine mechanische Bekämpfung wie die Köpfung der sagenhaften Hydra: Es wachsen ihr mehr Köpfe nach als man ihr abschlägt», so die Forscherin. «Wird ein Grünerlenbuch ebenerdig abgeschnitten, mobilisiert er alle Speicherstoffe aus dem Stock, macht junge Triebe und produziert Tausende von Samen. Die Pflanzen wächst in Kürze nach und wird noch grösser als zuvor», sagt Hiltbrunner.
Was tun? «Es würde sich in mehrfacher Hinsicht lohnen, zur Bekämpfung der Verbuschung Engadinerschafe einzusetzen», sagt Erika Hiltbrunner. Mit dem Pilotprojekt auf dem Gamsboden will die Forscherin sichtbar machen, dass «wir vor der Verbuschung mit all den negativen Folgen nicht resignieren müssen.»
Erfolgreiche Bekämpfung der Grünerlen mit Engadiner Schafen
Das Engadinerschaf frisst im Frühling am liebsten die Rinde von Grünerlen und bringt sie so zum Absterben. Im Gegensatz zur Ziegenhaltung ist das Handling für die Tierhalter von Engadinerschafen wesentlich einfacher. Das Engadinerschaf ist zutraulich, robust, fruchtbar (asaisonal mit Mehrlingsgeburten) und kann allein lammern, was die Beweidung im Gestrüpp sehr vereinfacht. Dank ihrer widerstandsfähigen Klauen ist die Anfälligkeit auf Moderhinke sehr gering.
Gestartet hat Erika Hiltbrunner das Projekt 2017 mit rund 200 Engadinerschafen im Gebiet Gamsboden am Gotthardpass. Dieses Jahr wird das gleiche Gebiet, erweitert um zwei Parzellen, mit 300 reinrassigen Engadinerschafen ein zweites Mal beweidet. Auf der Umtriebsweide, unterteilt in sieben Parzellen, werden die Schafe alle zwei bis drei Wochen weitergetrieben. Die Schafe werden täglich kontrolliert und der Erfolg wird wissenschaftlich dokumentiert. Mit einer Drohne, gesteuert von GPS-Daten via Computer, wird jede Parzelle vor und nach der Beweidung abgescannt. Aus rund 300 bis 400 hochauflösenden Einzelbildern entsteht eine genaue Dokumentation über das Absterben der Grünerlen. Finanziert wird das Projekt von privaten Gönnern (Hans-Peter Bauer, Adrian Schenker, Thomas Prajer von Swiss Finance and Property Group AG, Zürich und Al Breach, Andermatt). Die Schafe bleiben bis zum Alpabtrieb Mitte September 2018.
Wertschöpfungskette aufbauen
Die Idee ist so einfach, wie verblüffend: Engadinerschafe könnten das Urserntal über einen längeren Zeithorizont dauerhaft von der Verbuschung befreien. Für das Schaf- und Lammfleisch liesse sich ein Markt finden: Das fettarme Fleisch entspricht der heutigen Ernährung, ist gesund und ohne den typischen Schafgeschmack. «So könnte eine Wertschöpfungskette aufgebaut werden, bei der schliesslich die Konsumentinnen und Konsumenten wissen, dass sie etwas sehr Besonderes auf den Tisch bekommen. Sie leisten einen Beitrag an die Erhaltung einer alten Nutztierrasse und an das Offenhalten und Wiederöffnen von Wiesen und Weiden», sagt Hiltbrunner.
ALPFOR
Seit 16 Jahren leiten Erika Hiltbrunner und Christian Körner die Alpine Forschungs- und Ausbildungsstation ALPFOR auf der Furkapasshöhe. Das Projekt entstand auf Initiative des Botanischen Instituts der Universität Basel in Zusammenarbeit mit der Schweizer Armee und der Korporation Ursern. Infos über Engadinerschafe: www.engadinerschaf.ch