Ein Vaterunser hilft immer
Bürglen, 5. November 2018, der Föhn bläst, die Sonne steht tief. Die Silhouetten der Berge – messerscharf ausgeschnitten – vor einem tiefblauen Himmel. Eingangs des dunklen Riedertals, in der Nähe von drei Marien-Wallfahrtskapellen, steht das kleine Haus des Heilers Josef Stadler. Davor ein Bildstock des Kreuzwegs zur Riedertal-Kapelle – Jesus, gefesselt, mit der Dornenkrone – dahinter ein lebensgrosser Hirsch. Im Windfang hölzerne Spielzeugkühe. Im Bereich der Haustüre ein Hufeisen, ein kleiner Rosenkranz in der Form eines Rings, der Segen der heiligen drei Könige CMB + 2018 und zwei Hausssegen, einer in Kreuzform mit der Inschrift: «Gott segne dieses Haus und alle, die gehen ein und aus.»
Ich läute, Schritte sind zu hören. Josef Stadler begrüsst mich, sagt, «er sei der Sepp», und bittet mich in die Stube. Ein niederer, 1,90 Meter hoher Raum, das Täfer weiss gestrichen. Hier präsentiert sich ein Leben, eine Familiengeschichte. Auf der linken Seite der Stube der Herrgottswinkel und das Kanapee. In der Mitte ein kleiner Tisch, darauf ein Pendel, Briefe, eine Pfeife, ein lederner Tabaksack. An den Wänden Geweihe, ausgestopfte Köpfe eines Steinbocks, eines Rehs, einer Gemse. Ein Kranzkasten voller Medaillen – SC Haldi –, Fahrtreicheln, auf der Kommode Marien- und Jesusstatuen und Fotos von Verstorbenen. Bei der Türe ein Weihwassergeschirr, beim Fenster ein Feldstecher. Griffbereit.
Der 89-jährige Josef Stadler, Zuname Sebiger Sepp, sitzt mir gegenüber am Stubentisch. Es ist ihm anzusehen, dass er einmal Hirt und Arbeiter war. Sein Körper schlank und drahtig, seine Hände sind gross und kräftig.
Josef Stadler erzählt von sich, leise aber eindringlich. In einem langen, fast monotonen Redefluss, als würde er beten. Meist sind seine Augen geschlossen, der Blick scheint nach innen gerichtet: «Von 1951 bis 1998, 47 Sommer lang, war ich Hirt auf der Seenalp zuhinterst im Bisistal. Zuerst zwei Sommer als Knecht, später als Hirt.» Eine verantwortungsvolle Aufgabe. Gewählt wurde er von der Bürgergemeinde Bürglen. Jeden Frühling zog er mit seiner Frau Josefine und seinen Kindern über den Kinzigpass auf die Seenalp. Verantwortlich für 230 bis 250 Rinder, 450 Schafe, 10 eigene Kühe und 15 bis 20 Geissen. «Wir haben im Namen Gottes die Tiere auf die Alpen aufgetrieben und sie wieder gesund heimgebracht.» Heute besitzt Josef Stadler noch drei Schafe. Der Stalleingang ist dreifach verriegelt. Mit einem Hufeisen, einem verblichenen Muttergottes-Bild und einem Gebet: «Die sieben heiligen Himmelsriegel».
Auf der Alp war es Josef Stadler wichtig, jeden Abend beim Einnachten mit dem Betruf die Alp zu segnen. Der Betruf ist nicht nur Gebet, sondern auch magisches Wort, das wirkt. So darf der Betruf nicht vergessen oder zur Unzeit gerufen werden, das bringe Unglück.
«Man darf auf den Alpen keine schlechten Sachen machen», sagt Stadler. «Unsere Berge und Alpen sind mir heilig, ich begegne ihnen mit Ehrfurcht.»
Mit dem Betruf schützt der Älpler die Alp, die Menschen, die Tiere, die Gebäude. Dabei dreht sich der Betende mit der Volle im Kreis und zieht so mehrere Ringe um die Alp. Der Ring ist die alte Bezeichnung des Zauberkreises. Unter «Ring» wird im magischen Denken alles in sich Geschlossene verstanden. In dieser Geschlossenheit und damit auch Abgeschlossenheit liegt die Hauptkraft des magischen Ringes. Soweit der Schall reicht, soweit reicht der Schutz.
Im innersten Kreis, dem goldenen Ring, befindet sich die Muttergottes mit ihrem Kind. Im zweiten Kreis, die heilige Dreifaltigkeit, im äussersten Kreis die Schutzheiligen Antonius, Wendelin und Bruder Klaus und der Erzengel Michael. «Ihm müsse man befehlen mit Leib und Seele», sagt Josef Stadler.
Mit 59 Jahren erkrankte Josef Stadler an Leukämie, hatte keine Kraft mehr. Der Heiler Werner Rinderer half ihm wieder gesund zu werden. Dabei entdeckte Josef Stadler seine eigenen Heilkräfte. Seit mehr als 30 Jahren kümmert er sich um Menschen, die es im Leben schwer haben. «Alles muss im Namen Gottes geschehen», sagt Stadler. Das Telefon klingelt täglich. Meist rufen Ratsuchende an, andere kommen vorbei.
Josef Stadler reiht Geschichte an Geschichte, erzählt von Orten, wo es nicht «süüber» sei, «wo sie schlechte Sachen gemacht haben». «Einmal kam ein Pächter zu mir. Er war verzweifelt, weil ihm der Landeigentümer die Pacht gekündigt hatte. Von einer Verlängerung des Pachtvertrags und von Pächterschutz wollte der Landbesitzer nichts wissen. Der Pächter wurde schwer krank, bekam eine Lungenentzündung, seine Frau stürzte und verlor ihr Kind.» Er wisse, dass im Geheimen schwarze Magie betrieben wurde.
«Wir müssen das Böse abschirmen. Da hilft der heilige Sankt Michael mit seinem heiligen Schwert und der Unterstützung vom heiligen Raphael und Gabriel. Sie müssen den lieben Gott um Bitte anflehen, damit sie den Satan gefesselt in den Abgrund stossen, die bösen Geister verbannen und die Strahlen der bösen Menschen erfassen, auflösen, zurücklenken. Die Bahnen verriegeln und versiegeln.» Josef Stadler zeigt mit mir einen fotokopierten Zettel: «Hl. Erzengel Michael, Schutzgebet gegen die böse Macht. Ich bitte dich, lieber barmherziger himmlischer Vater, lass diesen Menschen (N.N.) durch den heiligen Erzengel Michael und die auserwählten Fürsten im Kampfe gegen die Nachstellungen des bösen Feindes beschützen. Ihm möge der liebe Gott gebieten, so flehen wir inständig, dass ihr Fürsten der himmlischen Heerscharen, den Satan mit Gottes Kraft in die Hölle hinabstossen. Amen.»
Unvermittelt zaubert Josef Stadler einen kleinen Rosenkranz aus der Hosentasche. Am Ende der Kette ein Muttergottes-Medaillon und ein Kreuzchen. Er stützt einen Arm auf den Tisch, in der Hand den Rosenkranz, frei hängend, wie ein Pendel. Nach kurzer Zeit bewegt sich das Kreuz, dreht sich im Kreis, die Hand des Heilers bleibt aber still. Fasziniert schaue ich dem Schauspiel zu, weiss keine Erklärung. Das bedeute, dass ich ein guter Mensch sei, erklärt Josef. Darauf klaubt er Tabak aus dem ledernen Beutel, stopft seine Pfeife, zündet sie an. Rauchschwaden kräuseln um seinen Mund, im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Stille.
«Ich muss noch Streue sammeln für meine Schafe», sagt Josef. Zeit sich zu verabschieden. Er begleitet mich vor die Türe und drückt mir zum Abschied fest die Hand.
Schwarze Magie, Böser Blick und Cybermobbing
Der Unterschied zwischen Gebet und Zauberspruch ist gering. So heisst der Zauberer auch Beter, weil er Gebete spricht, die aber die Rolle von Zaubersprüchen spielen. Daher der Ausdruck «eine Krankheit abbeten» oder verbeten. Mit Gebeten betrieb man aber auch schwarze Magie. Bis ins 16. Jahrhundert belegt war das Totbeten durch Abhalten einer Totenmesse für noch lebende Personen.
Als Alternative zur magischen Tötung eines Menschen bestand die wiederholte Rezitation bestimmter Fluchpsalmen (Bezeichnung für Gebete des biblischen Psalmenbuches, in denen der Beter Gott um die gewaltsame Vernichtung seiner Feinde anfleht). Atzmänner, meist Figuren aus Wachs, Teig oder Holz, wurden eingesetzt im Glauben, dass alles, was man dieser Figur antäte, auch dem Menschen passieren würde, der Ziel des Zaubers war. Atzmänner wurden auch im Liebeszauber verwendet.
Besonders fürchtete man den Bösen Blick: Im Volksglauben war man der Meinung, dass die Augen, hervorgerufen durch Neid, Strahlen aussenden, Schaden und Krankheiten verursachen. So fürchteten die Menschen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein die Augen des frisch Verstorbenen. Diese mussten unter allen Umständen sofort geschlossen werden, weil man der Überzeugung war, dass im Toten noch undefinierbare, aber gefährliche Lebenskräfte am Werk seien. Oft wurden die Augen mit Münzen oder Tonscherben, in die man ein Kruzifix geritzt hatte, verschlossen. Man glaubte, dass Bestattete als «Nachzehrer» den Hinterbliebenen die Lebenskraft absaugen könnten.
Schwarze Magie ist ein Zauber mit dem durch magische Handlungen anderen Menschen Schaden zugefügt wird. Beispielsweise durch Messerstiche in ein Bild des Opfers, durch Zaubersprüche, Verwünschungen etc. Schwarze Magie, ein Relikt aus vergangener Zeit? Kaum. Die Motive – Eifersucht, Hass oder Missgunst sind die gleichen wie vor hunderten von Jahren. Gehandelt wird im Geheimen:
Mit dem Verschicken von anonymen Briefen oder dem Streuen von Gerüchten. Die «Üble Nachrede» ist weit verbreitet und wird im Schweizerischen Strafrecht mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet. Zunehmend werden Menschen über Internet und Smartphone in ihrer Würde geschädigt: 2017 nahm sich in Spreitenbach eine Schülerin wegen Cybermobbing das Leben.