Freundeidgenössisch

Schifffahrt in der Nacht

Weil das Rütli nur mit dem Schiff erreicht werden kann, ist die bereits die Anreise im Morgengrauen ein Erlebnis. Die Urner Schützeninnen und Schützen steigen um 5.40 Uhr in Flüelen aufs Schiff. Sie reisen mit viel Gepäck – Rucksäcke, Sturmgewehre, Karabiner und den Rütlistandarten der Urner Schützengesellschaften von Altdorf, Attinghausen, Unterschächen, Seedorf, Bristen usw. Uri gehört mit Schwyz, Obwalden, Nidwalden und der Schützengesellschaft der Stadt Luzern zu den Rütli-Waldstätte-Sektionen und verfügt über ein Kontingent von 130 Schützeninnen und Schützen. Auffallend viele Frauen. Auch sie mit dem obligaten grünen Rütlihut, geschmückt mit einem Stechpalmenzweig und den leuchtend roten Beeren.

«Die Frauen schiessen uns an den Ohren vorbei», sagt Adrian Zurfluh, Präsident der Rütli-Sektion Uri. «Wenns eine im Griff hat, hast du keine Chance.» Die Vorfreude ist gross, es wird viel gelacht, einige jassen, andere genehmigen sich einen Schnupf.

 

Die Musik spielt

Bei der Schiffsstation Isleten steigt die Musikgesellschaft Isenthal zu. Das bordeaux rote Tenü, dem Rütli angepasst: anstatt

schwarzer Halbschuhe tragen alle Gamaschen und Bergschuhe. Wenns regnet, wird die Rütliwiese sehr schnell zu einer braunen «Moorlandschaft». Darum sind auch sämtliche Böden des Schiffs vorsichtshalber mit weisser Malerfolie abgedeckt. Es ist föhnig,

die Wetterprognosen sind gut, aber man weiss ja nie. In Bauen steigen die letzten Urner Schützen aufs Schiff. Die Urner Rütli-Schützen organisieren als «Vorortssektion» dieses Mal den Grossanlass. Von der Schiessleitung, über das Schiessbüro, die Küche bis zur Sanität. Nach den letzten organisatorischen Durchsagen des Vorortspräsidenten Adrian Zurfluh, wünscht er allen Rütli-Schützen «Gut Schuss und einen unfallfreien Tag». Um 6.10 erreicht das Schiff das Rütli. Während die Urner Schützen in einer langen Kolonne mit schwerem Gepäck zum Schiessplatz hochsteigen, spielt die Musikgesellschaft Isenthal in der Schiffsstation populäre Märsche zur Begrüssung der folgenden Schiffe mit den Luzerner, den Unterwaldner und den Schwyzer Schützen.

 

Kniend schiessen

Das Rütlischiessen stellt an die Schützinnen und Schützen spezielle Anforderungen: Geschossen wird kniend. Probeschüsse gibt es keine. Geschossen wird auf 48 A-Scheiben in 24 Ablösungen. 15 Schüsse werden pro Schützen abgegeben: 3 Schüsse in 1 Minute, 2 x 6 Schüsse innerhalb 2 Minuten. Aus 15 Schüssen resultiert ein Punktemaximum von 75 Punkten. Für jeden Treffer auf die Scheibe wird zusätzlich 1 Punkt gutgeschrieben. Maximal kann ein Schütze somit 90 Punkte erreichen. Ein Schütze bezahlt für Schiesskarte, Munition, Essen, Unkostenbeitrag und Verbandsabgaben 42 Franken. Inzwischen ist die Zeigermannschaft im Bunker bereit. Um 7.35 3 Hornstösse der Schiess- und Feuerleitung. Das Feuer wird kommandiert: «Karabiner 6 Patronen, Sturmgewehre 15 Patronen laden.

6 Schuss in 2 Minuten – Anlegen – Feuer!» Die ersten Schüsse fallen, der Schiesslärm von 48 Gewehren – Musik für die Schützen. Geschossen wird pausenlos, sechseinhalb Stunden bis 14 Uhr. 17'280 Kugeln fliegen in dieser Zeit in den Zielraum.

 

Ordinäri, Blasmusik und lokale Spezialitäten

Das legendäre «Ordinär», das Gericht aus Siedfleisch, Speck, Zungenwurst, Sauerkraut und Kartoffeln möchte niemand missen. Dazu gibt’s in eine feine Gemüsesuppe. Gekocht wird in Russ geschwärzten, riesigen Bottichen, zwei Heizer sind pausenlos am Holznachlegen. Um 11 Uhr stehen die ersten in der Fassstrasse. Drei Stunden lang werden pausenlos Menüs ausgegeben. Gegessen wird aus Porzellantellern mit Offiziersbesteck. Kein Plastikbesteck, keine Plastikteller. Pausenlos sind 10 Männer und Frauen und Soldaten am Abwaschen. «Schweizer Armee. Für Sie im Einsatz», steht auf drei Blachen in drei Sprachen.

Den Schützen werden mit dem Tagesbefehl auch ein paar Benimmregeln mitgegeben: «Ehrensache für Rütlischützen: Haltet unser Rütli sauber. Jeder nimmt das Leermaterial und Unrat wieder mit! Kein Rummelplatz mit Zelten, Schirmen und Kunststoff-Folien!» Warum die Stadtschützen Bern als einzige ein Zelt aufbauen dürfen, weiss niemand so genau.

Die Besucherinnen und Besucher wie die Schützen schätzen die gemütliche und ungezwungene Atmosphäre. Jede der 54 Sektionen hat einen Stammplatz, mit einer Standarte gekennzeichnet. An langen den langen Tischen sind auch Gäste jederzeit willkommen und eingeladen regionalen Spe­zialitäten zu versuchen. Die Tessiner bräteln Maroni, die Zuger haben ihre Kirschtorten in einer eigenen Kiste mitgebracht, die Oltener schneiden von ihren vier Meter langen Birewegge ab, bei den Wolfenschiesser Schützen gibt’s Bratkäse, die Neuenburger schmelzen ein Fondue, die Berner offerieren eine opulente Platte mit Käse, Wurst und Speck. Auch einige Originale gibt’s zu bewundern, wie den Heizer Bruno Tschumi, der mit seinem federngeschückten Hut und Buschmesser einem Cowboy ähnelt. Ein vielfach erprobter Rütlischütze ist Kari Müller. Er trägt den Hut mit den meisten Abzeichen: «Der komme einmal auf seinen Sarg.»

 

Patriotischer Schlusspunkt

Nach den Ehrungen, der Bekanntgabe der Schiessresultate, der Becherabgabe und dem Absingen der Landeshymne, wendet sich Urban Camenzind, Urner Landammann, mit einer «patriotischen Rede» an die Schützengemeinde. Camen­zind erinnert an den Sonderbundskrieg von 1847: «Die Schweiz war gespalten in Konservative und Liberale, Katholiken und Protestanten. Nach dem Ende des Bürgerkriegs und der Annahme der Bundesverfassung 1848 trafen sich die Schützen, Turner und Sänger regelmässig zu sportlichen Wettkämpfen. Das Eidgenössische Schützenfest von 1849 in Aarau gilt als eine der wichtigsten nationalen Veranstaltungen des modernen Bundesstaates und der modernen Demokratie in der Schweiz. Als Schützenfest spielte es beim Aufbau der Willensnation Schweiz eine tragende Rolle.» Heute werde in der Politik auseinandergetrennt und gespalten, fährt Camenzind fort. «Gemeinsame Lösungen seien so nicht mehr möglich. Dabei sei es gerade in der heutigen Zeit notwendig, die vorausschauende und fortschrittliche Geisteshaltung unserer Schützenkameraden vor 150 Jahren als Vorbild nehmen.»

 

Heimkehr in der Nacht

Um 17.30 Uhr warten die Urner Schützen auf ihr Schiff. Sie sind die letzten, die heimfahren. Die Musikgesellschaft Isenthal spielt ein letztes Ständchen. Die Gewinner der Rütlibecher werden gefeiert. Ein paar Rütli-Schützen sind sich nicht mehr so sicher, ob sie schwanken oder ob sich das Schiff sich hin und herwiegt.

Morgen wird auf dem Rütli aufgeräumt, das Restaurantzelt abgebaut, die Schiessfahnen eingerollt, das Altglas entsorgt. Nach vier Stunden erinnert fast nichts mehr an den gestrigen Grossanlass erinnern – ausser ein paar Spuren im Gras.

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