Kampf der Jahreszeiten
Das Aargauer Weindorf Effingen feiert alle zwei Jahre das Erwachen des Frühlings mit dem Brauchtum des Eierleset. In diesem Spektakel kämpft der alte Winter gegen den jungen Frühling. Verkörpert werden die beiden Jahreszeiten durch wilde, maskierte Naturgestalten wie dem «Tannästler» oder dem «Schnäggehüsler». Der Brauch, eng mit der Landwirtschaft verbunden, erinnert an den vorchristlichen Naturglauben.
Im Bauerndorf Effingen, eingebettet in die sanfte Hügellandschaft des Fricktals, leben 600 Menschen. 20 Vereine zeugen von einem aktiven Dorfleben. Der Turnverein Effingen kümmert sich um das Eierleset, einem österlichen Brauch, wie er früher an vielen Orten in der Nordwestschweiz verbreitet war und in einigen Gemeinden der Kantone Baselland, Solothurn und Aargau bis heute überlebt hat. Und was noch mehr überrascht: das Brauchtum des Eierleset lebt sowohl in protestantischen, wie in katholischen Gebieten.
Am Anfang war das Ei
Das Ei steht am Anfang jahrtausendealter magischer Vorstellungen, als die Menschen staunend das Wunder des Lebens beobachteten, wie die Entwicklung des Vogels aus dem Ei. Das Ei wurde als Quelle des Lebens betrachtet. Die Menschen glaubten an die Übertragung dieser Lebenskraft mit allem was mit dem Ei in Berührung gebracht wurde. Besonders im Frühling, in der Zeit der erwachenden und aufkeimenden Natur, wurde das Ei als Träger der Fruchtbarkeit vielfach eingesetzt. Um die Fruchtbarkeit des Eis zu übertragen, wurde beispielsweise der Pflug über vergrabene Eier geführt, man mischte Eierschalen unter den Saatweizen, brachte Eier aufs Feld gegen Mehltau und Hagel usw. Einzelne Rituale, wie das Eiertütschen, haben sich im Volksglauben bis heute erhalten: In Baden heisst das stumpfe Ende des Eis «Engele», das spitze «Teufele».
Traditionen verbinden
In Effingen werden Monate im Voraus die havarierten Kostüme des letzten Eierlest durch den Turnverein hergerichtet. Das Aufnähen der Spielkarten für das Gewand des Jasschärtlers oder das Befestigen hunderter Schneckenhäuschen für das Kleid des Schnäggehüslers erfordern viel Geschick und Geduld. Besonders kräfteraubend und aufwendig ist die Herstellung des Kostüms des Hobelspänlers: Mehr als tausend Holzspäne werden von Hand gehobelt und einzeln befestigt. Bei den Vorbereitungen sind viele Mitglieder des Turnvereins engagiert. Gross ist die Faszination und Freude an diesem traditionellen Brauchtum: Bereits werden auf der Internetseite www.eierleset.ch die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zum Eierlestet 2020, am 19. April, heruntergezählt.
Das Eierleset in Effingen
Für das Eierleset am 8. April hat sich Effingen besonders herausgeputzt. Bögen aus Tannästen zieren die Dorfstrasse, Tribünen aus Paletten sind aufgebaut, bereit sind die beiden 80 Meter langen Eierbahnen und an Getränke- und Essbuden stehen die Zuschauer Schlange. Kurz vor dem Eierleset wird das Sackkleid des Straumunis mit Stroh gestopft und zugenäht.
Um 14.30 Uhr kann der Kampf beginnen: Laut und ausgelassen stürmen zwölf wilde Gestalten die Dorfstrasse, voran der Läufer und der Reiter. Der «Eierpfarrer», ein Herr in Frack und Zylinder, schickt die beiden ins Rennen. Während der Eierläufer die 162 Eier der beiden Eierbahnen Stück für Stück in eine mit Spreu gefüllten Korb wirft, muss der Reiter die Dorfgrenze abreiten und im Dorf seiner Wahl in einer Wirtschaft einkehren. Die Rangelei der Naturgestalten dauert zum Vergnügen der Zuschauer exakt so lang, bis der Läufer das letzte Ei in den Korb geworfen hat. Der Läufer (Frühling) hat damit den Wettkampf gewonnen und der Reiter (Winter) kehrt wie immer zu spät ins Dorf zurück.
Ringen zwischen Winter und Frühling
Während nun der Eierläufer keuchend hin und herrennt, ist der Kampf zwischen Winter und Frühling in vollem Gang: Die Braut drischt mit ihrem Blumenstrauss auf einen plumpen, in Futtersäcken und Stroh ausgestopften Naturgestalt – den Straumuni. Hunderte von Schneckenhäuser zieren das Kleid einer anderen Figur, die sich grunzende Urlaute von sich gebend, aus vollem Lauf auf einen riesigen maskierten Dickwanst im Stechpalmenkleid wirft. Zur Freude des Publikums folgt Attacke auf Attacke. Einzelne Gestalten gehen zu Boden, liegen hilflos zappelnd wie Käfer auf dem Rücken. Schnell helfen ihnen die Kumpane wieder auf die Beine und die Prügelei geht munter weiter. Die Alte, eine Figur des Winters, haut rohe Eier entzwei und zermantscht sie genüsslich mit Sägemehl in einer Bratpfanne. Früher wurden mit dieser Eiermasse ledige Frauen beschmiert, im Glauben damit Fruchtbarkeit zu übertragen.
Die Figuren des Effinger Eierlesens
Die zwölf Figuren des Eierlesens gliedern sich in drei Gruppen: Die «Grünen», als Verkörperung des Frühlings, kämpfen gegen die «Dürren», als Personifizierung des Winters. Den Kampf überwachen als Schiedsrichter der Pfarrer und der Polizist. Sämtliche Figuren tragen furchterregende Masken.
Den erwachenden Frühling verkörpern der Läufer (Energie), das Hochzeitspärchen (Junge Liebe, Jungfräulichkeit), der Hühnermann (bietet Hennen an, Symbol der Fruchtbarkeit), der Jasschärtler (Spielfreude), der Tannästler und der Stechpälmer (immergrün, symbolisieren die ewige Lebenskraft). Der müde Winter wird dargestellt durch den Reiter (der Winter verlässt, auf einem Pferd reitend, das Dorf), den schwerfälligen Straumuni (trägt ein Sackkleid, vollgestopft mit leergedroschenem Stroh), den Schnäggehüsler mit Hunderten von Schneckenhäuschen (lebloser Winter), den Hobelspänler (Kleid aus Hobelspänen) und den beiden Alten (Müdigkeit, Kraftlosigkeit).
Eine Stunde wogt der Kampf hin und her: die Kleider der Naturgestalten sind zerzaust und die Dorfstrasse ist übersät mit Hobelspänen, Tannenästen und Kleiderfetzen. Der Läufer, zehn Kilometer hin und her gerannt, wirft nun, vom Publikum laut angefeuert, das letzte Ei in den Korb. Endlich dürfen die Kontrahenten sich ihrer Masken entledigen und die sperrigen Kleider aus Tannenästen, Stechpalmen oder Strohsäcken öffnen. Keuchend und schwitzend liegen sie, ihren Durst stillend, im Schatten und geniessen mit dem Publikum die «Eierpredigt», eine Art Schnitzelbank der Dorfereignisse der letzten zwei Jahre. Mit Musik, dem traditionellen Eiertütschen und Zusammensein klingt das Dorffest aus.