Nüsslä, ggüüsä, intrigierä
Die Schwyzer Nüssler
15. Januar 2018, erster Fasnachtstag in Schwyz: Von weitem sind sie zu hören, die beiden Rott-Tambouren der Schwyzer Nüssler. Die traditionelle Schwyzer Fasnacht kennt keine Posaunen, Trompeten, Tubas oder Pauken: das einzige Musikinstrument sind Trommeln. Die immer gleichen Trommelschläge und -wirbel haben etwas Elektrisierendes und Mitreissendes. Unweigerlich folgt man dem Zug der traditionellen Fasnachtsfiguren durch die Strassen und Gassen von Schwyz. Die bekanntesten: der «Blätz», der alte Herr, das Domino, das Hudi, das Bajazzomäitli und die Zigeunerin. Am Strassenrand bleiben die Menschen stehen und die Kinder versuchen Chräpfli, Würste oder Orangen zu erheischen. Diese bekommen sie jedoch nicht umsonst. Die Kinder betteln mit dem Spruch «Sind so guät liäbä Maschgrad.» Der Maschgrad antwortet: «Duä ggüssä». Was die Kinder sofort voller Inbrunst tun. Im Chor tönt dieses Gekreische ohren-betäubend. Und es macht sichtlich Spass.
Der Narrentanz
So zieht die Rott von Restaurant zu Restaurant, die Route ist exakt festgelegt und im Internet publiziert. Vor jedem Gasthaus wird ge-nüsselt, getanzt. Dazu postieren sich die beiden Tambouren links und rechts des Eingangs. Der von Wirbeln durchsetzte Rhythmus mit seinen immer wiederkehrenden Takten ist die Aufforderung zum «Nüsseln», zum Narrentanz. Die Maschgraden drehen sich dabei auf Zehenspitzen minutenlang im Kreis, die Füsse nach vorne spickend, im wirbelnden Takt der beiden Trommler. Dann geht’s ins Res-taurant. Sofort beginnen die Maschgraden zu «intrigieren»: sie sprechen die Gäste an, witzeln, schimpfen und tadeln auch. Für die Mas-kierten ist das «Hochnehmen» ein Vergnügen, kennen sie doch viele Gesichter und Geschichten – und ein Gratisgetränk ist ihnen sicher. Zum Trinken brauchen die Maschgraden jedoch ein «Röhrli», denn die Masken dürfen sie im Restaurant nicht abziehen. Nach der kurzen Pause werden sie auf der Strasse von einer Schar kreischender und bettelnder Kinder empfangen. Diese füllen fleissig ihre Taschen mit Orangen und Süssigkeiten.
Das Nüssler-Virus
Um 12 Uhr können die Fasnächtlerinnen und Fasnächtler im Restaurant Hofmatt, das die Schwyzer Nüssler für sich reserviert haben, endlich die Masken abziehen. Für über 200 Personen ist hier gedeckt. Der Saal ist voll, es ist laut und es gibt viel zu lachen und zu reden. René Schlegel hat das Narrenzepter abgelegt, schaut überall zum rechten. Seit 20 Jahren ist er der Maschgradenvater der Schwyzer Nüssler: «Wenn ich die Trommeln höre, will ich ins Gwändli, will fröhlich sein, tanzen, ein Narr sein, Menschen ansprechen und sie hochnehmen. Sie kennen dich ja nicht, du bist unter der Maske. Du geniesst Narrenfreiheit!» Die Schwyzer Fasnacht ist für René Schlegel das wichtigste Fest im Jahr und der Höhepunkt der Schwyzer Volkskultur. Die Fasnacht beginnt am Dreikönigstag, 6. Januar (Epiphania = Erscheinung des Herrn) und dauert bis zum Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch. 1921 wurde der traditionsbe-wusste Verein «Schwyzer Nüssler» gegründet. Masken und Gewänder können in der Maskengarderobe gemietet werden und die Kunst des «Nüsselns» wird mit «Preisnüsseln», Nüsslerwettkämpfen für Erwachsene und Kinder, gefördert. «Um die Schwyzer Fasnachts-Tra-ditionen unverfälscht weiterzugeben, besuchen wir Schwyzer Nüssler Schulen, informieren über unsere traditionellen Fasnachtsfiguren, zeigen den Kindern den Narrentanz und animieren sie zum Mitmachen», schildert der Maschgradenvater René Schlegel begeistert.
Name von Baumnüssen
Früher sollen die Schwyzer Fasnächtler Nüsse anstatt Orangen verteilt haben, daher auch der Name «Nüssler». Baumnüsse galten als sehr wertvoll. Das Holz des Nussbaums und die Nuss als gut haltbares Nahrungsmittel und Öllieferant hatten über Jahrhunderte grosse Bedeutung. So verlangten Klöster und andere Landbesitzer den «Nusszehnten». Nüsse spielten auch in der Volksmagie eine grosse Rolle: So sollen wegen der hodenähnlichen Gestalt der Nüsse in einem nussreichen Jahr besonders viele Buben geboren werden.
Um die Kunst des Nüsseln möglichst unverfälscht zu erhalten und zu pflegen, gibt es strenge Regeln: so kennt die 1949 gegründete Güdelmontag-Rott, 10 Gebote: Du sollst – 1. Die Leute auf der Strasse und im Restaurant zum Narren halten, intrigieren. 2. Das Aus-werfen von Orangen auf Terrassen, aus offenen Fenstern usw. unterlassen. 3. In Anwesenheit des Publikums (auch im Restaurant) maskiert bleiben. 4. Mit der Rott vor den Tambouren laufen. 5. Schwarze Schuhe tragen. 6. bis 10. viel Spass haben. Jährlich verteilt die Güdelmontag-Rott 5 bis 7 Tonnen Orangen und rund 1000 Würste und Mutschli.
Herkunft des Blätz
Die populärste Schwyzer Fasnachtsfigur ist der «Blätz». Er trägt einen flachen Hut mit kleinen Ponpons, ein Harlekinkleid aus grobem Stoff, besetzt mit rautenförmigen, roten und blauen Tuchstücken (Blätzen). Sie entsprechen dem «Spiegel» der alten Militäruniformen. Zur Ausrüstung des «Blätz» gehören der Schellenriemen, als «Rhythmusinstrument», und ein Tännchen, damit werden Zuschauer ge-kitzelt oder aufgescheucht. Vergleichbar ist die Bedeutung des Tännchens mit den magischen Vorstellungen der «Lebensrute»: Mit den grünen Zweigen wurden im Frühling junge Frauen berührt oder geschlagen, um die Kraft der Pflanzentriebe auf den Menschen zu über-tragen. Die Herkunft des «Blätz» ist nicht belegbar, verweist aber auf den Arlecchino, einer Figur aus der Commedia dell’arte. Man kennt ähnliche Harlekin-Figuren wie der «Blätz»: In der Steiermark heissen sie «Flinserl», im Kanton Uri «Drapoling».
Am Fasnachtsdienstag strömen die Maschgraden gegen Mitternacht ein letztes Mal auf den Schwyzer Hauptplatz. Dort wird ein rie-siges Feuer entzündet. Wenn die Flammen den Holzstoss emporzüngeln und den «Blätz» erfassen, zischt und kracht es, bis mit einem mächtigen Knall der Kopf platzt. Die Fasnacht ist zu Ende, die Masken werden ins Feuer geworfen und die Glocken der Pfarrkirche St. Martin läuten die Fastenzeit ein.